März 1989


Ich blickte auf die Uhr und spürte, wie sich ein Kribbeln über meinen ganzen Körper ausbreitete und bis in die Haarspitzen vordrang. Ich atmete tief durch, ballte die Fäuste, um die Erregung niederzukämpfen, und dann beugte ich mich nach vorne zu Carmen auf dem Beifahrersitz und gab ihr einen langen Kuß, erleichtert und triumphierend. Hassan, die linke Hand lässig auf das Lenkrad gelehnt, pfiff ironisch durch die Zähne und kraulte mich mit der rechten am Kopf. Er lachte unvermittelt und fummelte eine Kippe aus seiner Brusttasche. Boris und Judith neben mir schauten einen Moment lang verständnislos, doch dann begriffen sie es auch. Hassan deutete auf die schwach beleuchtete Uhr am Armaturenbrett und drehte den Kopf nach hinten.

»Ihr könnt den Sekt rausholen«, sagte er.

»Guck lieber auf die Straße«, entgegnete Boris und nahm ihm die Zigarette aus dem Mund, um sich selbst eine daran anzuzünden. Judith kicherte und drückte Boris einen Kuß auf die Backe, dann griff sie nach unten und brachte tatsächlich eine Flasche Sekt zum Vorschein.

»Jetzt geht's aber los«, sagte Boris, »ham wir Silvester oder was?«

»Ein bißchen schon, oder nicht«, sagte ich, »oder wie würdest du das sonst nennen, was gleich passiert?«

Ich versuchte, draußen etwas zu erkennen, doch in der Dunkelheit war wenig zu sehen; hier standen die Laternen weit auseinander, dazwischen huschten die schwarzen Schattenrisse der Büsche, Zäune und zurückversetzten Häuser am Straßenrand vorbei. Die schönen, großen, reichen Häuser des Südwestens. Irgendwo weit hinter uns lag es jetzt, das eine Gebäude. Zu weit fort, um noch etwas davon erblicken zu können.

»Wart noch mit dem Sekt«, sagte Carmen, »laß uns erst den Müll loswerden.«

Carmen stopfte verschiedene Einzelteile, den ganzen überflüssig gewordenen Plunder, in eine Plastiktüte. Ich suchte meine Jackentaschen ab, nein, nichts vergessen. Hassan fuhr rechts ran und stoppte, Carmen sprang heraus und warf die Tüte in einen Mülleimer. Weiter ging's. Ich sah nach hinten, in Richtung Dunkelheit. Kein Lichtschein am Horizont. »Vergiss es«, sagte Boris, »da siehst du nichts. Wir sind zu weit weg.«

»Weit genug hoffentlich«, murrte Hassan.

»Ach, klar«, sagte Carmen, »sei nicht immer so mißtrauisch. Steil dir lieber vor, wie's dahinten jetzt abgeht. Scheiße, am liebsten würd ich dableiben und mir den ganzen Zauber ansehen, einfach so. Immer entgeht uns das Schönste.«

»Mir reicht's, wenn es gut abgeht «, sagte Hassan, »und wenn wir gut wegkommen.«

»Na, das sind wir jedenfalls«, lachte Boris, »also du kannst zufrieden sein, alter Bär. Los, Judith, mach die Flasche schon auf.«

Wir kamen an die erste große Kreuzung, Hassan bog nach links ab, fast ohne zu bremsen. Die Ampeln waren ausgeschaltet. Kein Verkehr, alles totenstill. Erste Schimmer der Morgendämmerung im Osten vor uns. Auf der linken Strassenseite, auf dem Bürgersteig, quer zur Straße, stand still ein Auto. Aus dem Augenwinkel sah ich, im Vorbeifahren, wie es sich bewegte. Es fuhr los und folgte uns. Hassan sah irritiert in den Rückspiegel. Dann ging hinter uns das Licht an, das Fahrlicht, dann das Blaulicht. Es wurde plötzlich sehr heiß, Adrenalin schoß durch meinen Körper und überschwemmte mich wie eine Sturzflut, es wurde noch heißer. Boris war das Lachen im Gesicht erstarrt, er drehte sich nach hinten, bewegte den Mund, ohne einen Ton herauszubringen. Judith hatte die Sektflasche sinken lassen, sie war noch zu. Carmen murmelte Scheiße, Scheiße, Scheiße, ohne Pause, und ich hörte mich selbst auch fluchen und stammeln. Es schlug über mir zusammen, die Hitze, der Bauch kreiste um sich selbst. Hassan schwitzte und trat aufs Gas. Unser Auto war so langsam, so langsam,' und das Blaulicht kam näher. Die Wände drängten nach innen, ich mußte mich dagegen stemmen.

»Verdammter Mist«, schrie Hassan, »wieso, wieso jetzt plötzlich? Wie können die so schnell sein, die verdammten Schweine?« Er zitterte, wir schleuderten, dann ging es gerade weiter. Carmen redete auf ihn ein, wollte ihn beruhigen und zitterte selbst. Wir drei hinten suchten fieberhaft den Sitz und den Boden nach Spuren ab, nach vergessenem Kleinkram, nach Handschuhen, Masken, Werkzeug, Taschenlampen, Splittern.

»Die wollen uns«, sagte Judith, »das ist kein Zufall. «

»Die Funkgeräte«, fragte Boris, »was machen wir damit?« »Rausschmeißen.«

»Moment«, rief Carmen, »he, Moment mal, noch haben sie uns nicht. Wenn wir die rauswerfen, finden sie's. Sind die Dinger sauber?«

»Gleich kommt 'ne scharfe Biegung, ich fahr rechts«, sagte Hassan, »da sehen sie nix, wirf die Scheiße raus, wir kommen nicht mehr weg mit dem Auto, kapiert ihr? Die sind schneller, gleich ham wir se alle auf'm Hals, verdammte Krücke, so schaffen wir's nicht!«

»Wir müssen raus hier und uns verteilen«, sagte ich und hatte die Hand schon am Türgriff. Sie zitterte und war feucht, verflucht, warum jetzt, alles hatte schon so gut ausgesehen. »Gleich nach der Ecke«, sagte Hassan, »ich fahr weiter und versuch ...«

Wir schlingerten um die Biegung. Fünfzig Meter vor uns war die Straße blockiert von zwei Bullenwagen. Jetzt leuchtete auch bei ihnen das Blaulicht auf. Der Wagen hinter uns warf als Echo zuckende Schatten in unser Auto, so hell, so nahe. Ich wartete, daß Lautsprecher plärrten, Flutlicht blendete, Schüsse knallten, aber es passierte nichts weiter. Ich wunderte mich, wieso so lange nichts passierte. Es waren nur Zehntelsekunden. Hassan bremste wie ein Irrer, und wir wurden nach vorne geschleudert. Die verdammte Tür wollte nicht aufgehen, die Sektpulle kullerte zwischen meinen Füßen umher, klirrte auf die Straße und rollte davon. Ich sah nichts mehr von den anderen, ich sah keine Bullen, weder rechts noch links, vor mir gab es nur einen schmalen Weg, alles andere verschwand. Ich hörte keine Stimmen, keine Schreie, keine quietschenden Bremsen, nichts von dem Krachen des Bullenautos gegen unseren Wagen, vom aufheulenden Motor, als Hassan von der Kupplung ging und durchstartete. Ich sah nichts anderes als einen Jägerzaun vor mir, irgendwo dahinter war ein Haus, ein dunkler Weg an diesem Haus vorbei, mein Weg, der einzige. Den Zaun nahm ich kaum wahr, schon lag er hinter mir, Bäume standen im Weg, Rufe verfolgten mich. Im Haus ging Licht an, egal, ich rannte und taumelte, vorbei an Büschen, über Zäune, ohne zu wissen, wohin.

Stacheldraht biß in meine Hand und Gestrüpp zerrte an meinen Beinen, die Luft brannte mir in der Kehle, das Herz dröhnte in meinem Kopf. Das Brennen setzte sich fort, wanderte tiefer, pulsierte in meinem Bauch, mir wurde übel, aber es gab kein Stehenbleiben. Undeutlich hörte ich Geräusche hinter mir, das mußten sie sein, vielleicht waren sie schon direkt hinter mir, aber ich drehte mich nicht um. Irgendwo knallte es dumpf, aber das konnte sonstwo sein, egal, nur rennen.

Dann war ich angekommen: Auf der Straße, vor mir eine Mauer, zu hoch, unüberwindlich. Links, kaum dreißig Meter entfernt, die Straßensperre. Oder eine andere? Ich hatte keine Orientierung. War hier alles abgesperrt, jede Straße?

Was waren das für Straßen hier? Ich kannte sie nicht. Von rechts näherten sich Rufe, von hinten Lärm. Einen Moment blieb ich stehen, keuchend, einen letzten Weg suchend, ohne mich umzudrehen. Ich wollte sie nicht sehen. Ich wollte die Angst wegdrücken. Dann kam etwas heran, und ich wurde gegen die Mauer geschleudert. Von hinten bekam ich einen Schlag an den Kopf, dann wurde ich herumgerissen. Ein Ziviler stand vor mir, er drückte mir den Lauf seiner Knarre in den Mund, kalt, stählern, ich spürte sie bis in den Bauch. Ich tat nichts mehr, hätte sowieso nichts mehr tun können. Ich konnte nur noch nach Luft schnappen. Jemand trat mich in die Seite, meine Arme wurden herumgerissen, und in die Handgelenke schnitten die Handschellen ein.

Das ganze Geschehen entfernte sich von mir, es wurde mir fast egal. Es war ein Film, mit dem ich nichts zu tun hatte, den ich mir nur ansah. Jetzt war es eben geschehen. Irgendwann mußte es geschehen. War ich das, dem es geschehen war? Früher oder später mußte es passieren - war das jetzt gerade früher oder später? Vielleicht dazwischen. Ich rang krampfhaft nach Luft und lag auf dem Bauch, ein Bulle setzte mir den Stiefel ins Genick, ein anderer hielt mir die MP an den Kopf, so, daß ich sie ganz bestimmt nicht vergaß. Ringsherum wurde es lauter, aber das betraf mich alles nicht. Die Stimmen, die sich näherten, das Pfeifen und Quietschen der Funkgeräte, das Scheppern mit Waffen, das Schlagen von Autotüren, dazu das geisterhafte Licht der Bullenfahrzeuge - all das hatte nichts mit mir zu tun. Oder wenn doch, so war das alles ein Film, der gleich zu Ende war, und das dort waren vielleicht gar keine Bullen, sondern Statisten, um den Nachspann zu untermalen. Sie sammelten die liegengebliebenen Reste auf, kehrten den Müll weg und hielten Kontakt mit der Reinigungszentrale, die Wert darauf legte, daß keine Krümel übrigblieben. Sie verfügten sogar

über Maschinenbesen mit randvollen Borstenmagazinen. Bei dieser Vorstellung mußte ich fast lachen, aber das ging kaum, so auf dem Bauch liegend, einen Stiefel auf dem Hals und kaum Luft in den Lungen. Irgendwo auf dem Rücken fühlte ich undeutlich eine Verletzung, das mußten die Hände sein, vielleicht vom Stacheldraht, vielleicht von den Handschellen. Es war zu weit entfernt, um irgendeine Bedeutung zu haben. Dafür war immer noch genug Zeit. Nach und nach drangen Stimmen zu mir durch.

»Ja, den einen haben wir, sind hier ... Moment, ich frag mal nach ...«

»Hier 22 Anton, wir sind jetzt bei 22 Berta und verbleiben bis ... wie bitte?«

»Nicht verstanden, wiederholen.«

»Ich sagte, 22 Anton verbleibt erst mal hier am Ort, bei 22 Berta.«

»Ja, verstanden, vier Uhr dreiundzwanzig.«

»Welche Person war das, die Sie da haben, 22 Anton?« » 'Ne männliche.«

»Wen harn Sie? Bitte wiederholen, Sie kommen mit Unterbrechungen.«

»Ja, wir ham hier 'ne männliche, ich weiß jetzt noch nicht

Irgendwer zerrte an mir herum, während der Bulle mir immer noch im Genick stand. Ein anderer zog meinen Kopf an den Haaren hoch. Es tat nicht weh. Ich spürte nichts. »Wer bist du, hä? Wo ist dein Ausweis? Hast du was an den Ohren?«

»Kannst auch was drauf bekommen, wenn du willst«, sagte ein anderer.

»Komm, pack schon dein' Ausweis raus«, sagte der erste, »geht ihr mal weg da, wir durchsuchen mal eben. Biste bewaffnet? Beine breit und halt die Schnauze!«

Ich schüttelte den Kopf und überließ es ihnen, worauf sie das bezogen. Sie tasteten mich ab, wühlten an mir rum und holten allerlei aus meinen Taschen, dann drehten sie mich auf den Rücken und suchten weiter. Ich sah ihre Gesichter dicht über mir und sagte keinen Ton. Immerhin hatte ich mich inzwischen soweit gefangen, daß ich hätte sprechen können, wenn ich gewollt hätte. Einer der Bullen hatte meinen Ausweis gefunden und grunzte befriedigt.

»Ja, laut Ausweis ist das hier also Tomas Lecorte, Ludwig Emil, Cäsar, Otto, Richard, Theodor, Emil, Vorname Tomas ohne H ... geboren zwölften Januar dreiundsechzig in Berlin ... ja; verstanden, 21?«

»Alles klar, das genügt uns, das sind dann alle. Kommen Sie dann mal über Draht, 22 Anton.«

»Ja verstanden.«

Ich hatte auch verstanden. Ich lag wieder auf dem Bauch, das war gut so, die Bullen sollten nicht unbedingt sehen, daß ich um mein Gesicht kämpfte; ganz ruhig bleiben jetzt. Verdammte Scheiße, sie sagten, sie haben alle, oder hatte ich mich doch verhört? Oder war es ein Trick, oder meinten die was ganz anderes? Nein, sie meinten genau das und nichts anderes. Wann würde ich die anderen überhaupt wiedersehen, eine blöde Frage, irgendwann mal, im Prozeß, für kurze Zeit. Und dann weg, ab in den Bunker, für die nächsten Jahre. Bleib ruhig, ganz ruhig, und gewöhn dich an den Gedanken, wieder mal ein Zimmer ohne Türklinke zu haben. Du weißt doch schon, wie so etwas aussieht. Eben einfach eine Tür ohne Klinke, dafür aber mit 'nem Spion in der Mitte. Auch daran kann man sich gewöhnen, vielleicht, hoffentlich, wahrscheinlich überhaupt nicht. Und die anderen? Wie kamen die klar? Ich dachte an Carmen, die das Alleinsein haßte, die es nicht ertrug, und an Hassan, der war kurzsichtig - und kamen nicht viele aus der Isolationshaft mit dicken Brillengläsern und kaputten Augen raus? Oder lag das an den Hungerstreiks? Und Boris und Judith, jungverliebt, zarte Bande, und jetzt so was, es war zum Schreien. Und ich selbst, die anderen verschwanden wieder, mein Zimmer, das jetzt leer zurückblieb, oder auch nicht ganz leer; jedenfalls nicht so leer wie nach dem Besuch der Bullen, der in Kürze stattfinden würde. Was war da, das sie nicht finden durften oder soilten? Mir fiel nichts wirklich Dramatisches ein, und das gab wenigstens für einen Moment ein entspanntes Gefühl. Wenigstens aus dieser Richtung drohte mir nichts. Außer, sie wollten mir aus irgendwelchen Harmlosigkeiten einen Strick drehen, aus einem Stadtplan, Broschüren, einem Wecker, einem Schraubenzieher ... Und dann gab es da noch einiges, woraus sie mir vielleicht keinen Strick drehen konnten, das sie aber dennoch nicht haben sollten. Sie würden kommen, alles befingern und in Plastiksäcke stopfen, meine Fotos, Briefe, Liebeserklärungen, Tagebücher, Bilder, Papiere, Gedanken, was ihnen gerade in den Sack paßte. Und wenn schon, was hätte ich schon davon, wenn es dabliebe? Ich würde es so oder so nicht wiedersehen, nicht auf absehbare Zeit. Es war weg, und ich war weg. Hoffentlich blieb jemand übrig, sich um uns zu kümmern.

Wie lange ich jetzt schon flach auf dem Bürgersteig lag, wußte ich nicht, aber es wurde allmählich kühl, und die Handschellen schnitten in die Gelenke ein. Ich brauchte mich nicht darüber zu beschweren. Ich ließ es sogar besser, denn sie wären höchstens noch enger gestellt worden. Um mich herum wurde hin- und hergelaufen, ohne erkennbaren Sinn, hin und her, ringsherum, das ist nicht schwer. In einiger Entfernung sah ich Lichter in Wohnhäusern und davor, jenseits der Bullenabsperrung, Menschen, die her-übersahen. Dazwischen lag ein Graben, breit und tief wie ein Meer, und ein Wall, massig, steil und hoch wie der Hindukusch, und Mauer, Stacheldraht, Todesstreifen, Elektrozaun, Selbstschußanlagen, Nagelbretter, Minenfelder, und vor allem viele, viele Kilometer, unendliche Weiten, die kein Ruf je überbrücken, kein Fuß jemals durchschreiten konnte. Es war eine andere Welt, dort, jenseits der Absperrung, und es gab keine Sprache, um sich mit den Wesen jener Welt zu verständigen. Am besten war es, diese Welt so schnell wie möglich zu vergessen. Hinter mir lag eine andere Wirklichkeit, meine eigene, und vor mir lag auch eine andere, ihm Welt, in die ich jetzt hineingerissen wurde, die nun für mich Realität wurde, die meine eigene Wirklichkeit plattgewalzt hatte. Hier gab es für mich groben Stein, wie den, der mir sein Muster in die Backe drückte, und Stahl, wie den, der meine Handgelenke taub machte, und Stiefel, wie den, der meinen Hals als Fußmatte benutzte, und kalte, fantasielose, bedauernswerte Stimmen von Befehlsempfängern und Befehlsausteilern, frei von Ideen und Persönlichkeit, alt, weil sie schon vor Jahren zerdrückt und in Formulare und Schreibmaschinen gepreßt worden waren.

Die Stimmen sprachen weiter, immer noch, ich konnte nicht unterscheiden, ab sie über meine Festnahme, ihre große Liebe oder das Möbel-Höffner-Angebot des Monats redeten. Es klang alles monoton und desinteressiert. Vielleicht kam es auch nur mir so vor, denn ich war selbst gelangweilt. Es geschah nichts, ich lag da, die Stimmen sprachen, Autos kamen und fuhren ab, Türen schlugen, Funkgeräte näselten. Irgendeiner sagte so etwas wie »vier Uhr vierzig«. Ob das noch derselbe Tag war oder schon der nächste - es war alles sehr egal. Wenn es irgend etwas gab, das ich jetzt brauchte, dann war es Geduld. Und wenn es irgend etwas für mich zu tun gab in den nächsten Stunden, Tagen und Wochen, dann Abwarten. Abwarten und Fixbutte trinken.

Diese Stunden vergingen kalt und zäh, und ich zwischen allen Dingen und wartend. Während mein Körper tat, wozu er gezwungen wurde, war mein Geist anderswo unterwegs, hin- und hergerissen zwischen den verschiedenen Realitäten. Manchmal versuchte ich wahrzunehmen, was um mich her geschah, dann wieder war alles weit entfernt, und ich dachte überhaupt nichts, stellte alle Gedanken ab, und dann wiederum füllte sich mein Kopf plötzlich mit zahllosen Gedanken und Bildern jeder Sorte, und ich versuchte vergeblich, mich zu konzentrieren. Bilder erschienen, von Bullen, von Zellen, von Verhören, Prozessen, so, wie ich sie kannte, und so, wie ich sie vielleicht jetzt kennenlernen würde. Sie purzelten wahllos durcheinander, und ich konnte keine Vorstellung länger festhalten. Ein Gedanke löste den anderen ab, ohne Sinn, ohne Ziel, sie kamen und gingen, und ich war nichts weiter als unbeteiligter Zuschauer. Aber die Zeit verging langsam, viel zu langsam. Sie verging nicht: sie wurde mir genommen.

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich an Haaren und Armen emporgerissen und aufgerichtet wurde. Sie brachten mich zu dritt zu einem Zivilfahrzeug, und jeder von ihnen zerrte in eine andere Richtung, so daß ich beim Gehen schwankte wie ein Besoffener. Von irgendwoher leuchteten Blitzlichter auf. Ich wurde gegen das Auto gestoßen und nochmal durchsucht, dann auf den Rücksitz gedrückt, neben mir ein Zivilbulle mit gezogener Knarre. Er sagte etwas von »ruhig bleiben« und »keinen Quatsch machen«, was aber nur langsam zu mir durchdrang. Meine Hände waren zwischen Rückgrat und Lehne eingeklemmt, so daß ich mir durch mein eigenes Gewicht die Handschellen ins Fleisch drückte. Zwei Zivile stiegen vorn ein, und dann fuhren wir in einer kleinen Kolonne los, mit Blaulicht, irgendwelche Straßen, die mir fremd vorkamen. Dann kam eine Bullenwache, ich erkannte sie nicht, und die gewöhnliche Prozedur der Aufnahme. Durch grelle, überheizte Flure, obere Hälfte hell gestrichen, unten irgendein abwaschbares braunes Zeug, hallende Schritte, ein kahler Raum, Handschellen weg, alles ausziehen, ein Bulle faßte mir grob zwischen die Beine und fragte, ob ich irgendwelche Probleme hätte oder was vor den Kopp wollte, dann schnappten sie sich Schuhe und Gürtel und gaben mir die Klamotten zurück, nachdem sie sie durchsucht hatten, zum dritten Mal jetzt, und dann saß ich in der Zelle. Die üblichen fünf Quadratmeter, glatte Wände, festgeschweißte Pritsche, Lampe hinter Plexiglas, dunkelgrüne Stahlstäbe, engmaschiges Gitter, durch das nicht einmal der kleine Finger paßt - wenn doch wenigstens der kleine Finger hindurchginge, aber nein, der ganze menschliche Körper hat nichts, das durch diese Maschen geht! - Licht, zu warme Luft, und jedes Geräusch im Gang eine Tortur: Kommen sie zu mir? Sie müssen zu mir kommen! Ganz bestimmt kommen sie zu mir! Sie können nur zu mir kommen. Ich wünschte, sie kämen, und wenn es nur ist, weil sie mich verprügeln wollen. Aber sie gehen weiter, die Schlüssel scheppern, eine Tür kracht, barsche Stimmen und wieder Ruhe.

Ich versuchte zu schlafen, aber es ging nicht, und die unkontrollierten Bilder kamen wieder. Die Fahrt im Auto, der Wagen, der aus dem Dunkeln plötzlich hinter uns war, Blaulicht, Bullen, die Knarren am Kopf. Und der Weg durch die Gärten, die Zäune, und hätte ich dort nicht lieber nach links rennen sollen oder da besser geradeaus oder mich irgendwo verstecken; und hätte ich nicht zuletzt noch ausbrechen können, hatte ich die Chance verpaßt, nach rechts, mich durchkämpfen, es wenigstens versuchen, anstatt mich so widerstandslos festnehmen zu lassen? Hätte ich das schaffen können? Hatte ich's vergeigt? Oder hätte ich nicht viel besser, hätten wir nicht lieber Knarren mitnehmen sollen, den Weg freischießen, auf die Gefahr hin, draufzugehen? Hätten wir geschossen? Nein, wir hätten nicht, jedenfalls nicht als erste, und damit war es wertlos. Waffen waren dazu da, zuerst eingesetzt zu werden. Vergiß die romantischen Vorstellungen aus edlen Western. Die Bullen wissen das, die schießen zuerst. Wir hätten es nicht gebracht, ich jedenfalls nicht. Wir waren da nicht wie sie, wir hatten Skrupel und weder Befehle noch eine Dienstordnung. Mal ganz abgesehen davon, daß ein Schuß von uns mindestens zehn Jahre Knast bedeutete, ein Schuß der Bullen jedoch vier Monate auf Bewährung oder eine Geldstrafe. Wir hätten nicht geschossen oder zu spät, und zuletzt hätten sie uns vielleicht abgeknallt. War das schlimmer, als im Knast vor die Hunde zu gehen? Naja, abwarten, ein paar Jahre werden es, aber es ist zu überstehen. Auch zehn Jahre Isolationshaft. Wie du dann aussiehst, wenn du schließlich aus dem Knast rauskommst, gut, das ist was anderes. Aber leben, verdammt, leben. Danach geht es weiter. Vom Tod zu reden ist leicht, solange er weit weg ist. Je näher er kommt, desto geringer wird die Todesverachtung.

Irgendwann am frühen Morgen holten sie mich ab, gaben mir die Schuhe, ohne Schnürsenkel, und verfrachteten mich wieder in ein Zivilfahrzeug. Ein VW-Bus, geschlossen, ich kam nach hinten, die Vorhänge zum vorderen Teil wurden zugezogen, ich sah nicht, wohin es ging. Die Handschellen waren jetzt lockerer, doch die Bullen neben mir wirkten nicht gerade gelassen. Niemand sprach ein Wort. Daußen schien es hell zu sein. Wir kamen aus einer Garage und fuhren in eine Garage, doch dazwischen drang Licht durch die Vorhänge, helles Morgenlicht. Dann wieder dieselbe Prozedur: Ausziehen, durchsuchen und eine Zelle. Ich kannte die Sorte: Ein Kasten aus Stahlwänden; mit ausgestreckten Armen konnte ich alle Wände und die Decke berühren. Die Wände waren etwas elastisch; wenn ich mich dagegen stemmte, gaben sie ein Stück nach. Die Tür war massiv und starr. Immerhin wußte ich jetzt, wo ich war: Das war der Tempelhofer Damm. Nebengebäude des Flughafens Tempelhof. Monumentale Nazi-Bauten. Faschistische Ästhetik. Polizeipräsidium und Staatsschutz. Es geschah trotzdem nichts Besonderes, die Zeit kroch dahin wie festgeklebt.

Zwischen den Versuchen, einzuschlafen, und dem Dahindämmern im Halbschlaf, ständig geweckt durch das geringste Geräusch von draußen, hatten die Gedanken wieder Zeit, sich in mir breitzumachen. Was war jetzt draußen? Richtig draußen, nicht vor der Zellentür, sondern auf den Straßen, in Kreuzberg, zu Hause? Das Leben würde banal weitergehen, Betrunkene trinken, Omas mit giftigen Gesichtern durch Kaufhäuser drängen, Kids über die Schulhöfe rennen oder irgendwo ihre Kippen rauchen; in Kreuzberg vertilgte einer sein erstes Döner, und ein anderer baute seinen ersten Joint, und am Kotti wurde Äitsch vertickt, und der Bio-Bäcker stapelte sein Öko-Brot in Jute-statt-Plastik-Säcke, und vor unserer Wohnung standen sie jetzt, die Bullenautos, und in der Wohnung blätterte ein Bulle meine Sachen durch und sah hinter die Tür und hob die Matratze an, und ein anderer war dabei, glatte Stellen mit schwarzem Pulver einzustäuben und Fingerabdrücke zu nehmen, und Anna saß wahrscheinlich auf dem Bett, rauchte eine Zigarette, kaute auf den Fingernägeln und betrachtete die MP, die lässig auf sie gerichtet war. Und hinterher würde die Wohnung ein Trümmerfeld sein. Ich kannte das noch von früher, wenn die Bullen uns in den besetzten Häusern heimgesucht hatten. Damals hatten sie sich einen Spaß daraus gemacht, Schuhwichse in Zahnbürsten zu schmieren, Blumentöpfe zu zertreten und Hochbetten zu zertrümmern. Diesesmal würden sie ernsthafter und systematischer sein und die Sachen nicht nur aus Jux und Dollerei auseinandernehmen. Damals, wie lange war das her? »Wie alles anfing« ... ging es mir durch den Kopf, das Buch von Bommi Baumann über seine tolle Zeit und seinen bewaffneten Kampf oder so ähnlich. Ich wußte nur noch den Titel, und daß vielleicht alle, die über diese ihre Geschichte schrieben, Aufschneider waren, jedenfalls wurde es ihnen nachgesagt, Baumann, Klein, Boock, wem noch ...?

Ich versuchte, mir diese Bücher ins Gedächtnis zu rufen, aber daraus wurde nicht viel. Ich erinnerte mich vor allem daran, daß die Geschichten immer schicksalhaft beladen waren und ihre Helden Spielbälle des Lebens, hineingeraten in Ereignisse, die ihnen später unheimlich wurden oder über den Kopf wuchsen, bis sie sie nicht mehr bewältigen konnten. Aber stets triumphierte zuletzt das in den Helden schlummernde moralische Gewissen, und sie schrieben ein Buch über alles, und diejenigen waren zufriedengestellt, die es schon immer gewußt hatten: daß es so und nicht anders passieren mußte, daß es jugendlicher Leichtsinn und - bestenfalls - revolutionäre Ungeduld mit einer Prise berechtigter Empörung waren, die jene Menschen vorangetrieben hatten, bis sie sich in einer Zwangslage wiederfanden, die sie im Grunde ihres Herzens nie angestrebt hatten. Waren da nicht auch Drogensucht, Abhängigkeit von Freugden und Gruppen, Liebe, Zufall mit im Spiel? Ob Emzel'fall oder repräsentativ war dasselbe. War es ein außergewöhnliches Phänomen, über den eigenen Weg bewußt entschieden zu haben?

Und jetzt, während all dem, durchwühlten sie unsere Wohnung, vielleicht packten sie gerade jetzt Anna und nahmen sie mit, aus meinem Unterbewußtsein stiegen ein paar scheußliche sexuelle Fantasien empor, schwappten kurz über meine Gedanken und verliefen sich zum Glück rasch wieder. Wie war das im Krieg, wenn die Soldaten den Feind überwunden hatten? Alles gehörte ihnen, den Söldnern, den Landsknechten, alles durften sie, den Besitz nahmen sie, und die Frauen nahmen sie. Aber es herrscht kein Krieg im Lande, sei beruhigt und vergiß deine absurden Gedanken an Anmache und Vergewaltigung; vergiß sie fast, denn auch der Krieg herrscht nur fast nicht und die Opfer sind nur ein bißchen tot, und die Anmache gibt es ... Und denk vor allem nicht an diese kleine schmutzige Tür in dir selbst, durch die deine eigene Faszination bei diesen Vorstellungen in dein Bewußtsein eindringt. Vergiß diese Ahnung von Geilheit bei Gewalt und Unterwerfung, bei Krieg, Sieg und Niederlage, eine Ahnung, die dich dem Feind näherbringt, jedem Feind, der ein Mann ist, denn sie vereint euch als Männer. Ich will kein Landsknecht sein, verdammt, ich will diese Gefühle nicht, ich verdränge sie, bekämpfe sie, ignoriere sie, analysiere sie. Ich bin ein Mann, aber das soll nicht dazugehören. Immer wieder taucht es aus den tieferen Sümpfen auf, immer wieder stoße ich es zurück in den Morast, aber es lebt weiter.

Durch die Öffnung im Unterbewußtsein strömten diese Gedanken und Gefühle, und als sie vorüber waren, folgte ein dünner Nachfluß, ein abgestandenes Bild von Frauenkörpern, gedankenlos und gesichtslos, fad und rasch vorbei, und dann hatte sich die Öffnung wieder geschlossen und die Ruhe war wiederhergestellt.

Später holten mich zwei Zivilbullen nach oben, Staatsschutz, einer von ihnen auf hundert Meter Entfernung zu erkennen am penetranten, gestutzten Bart der Berliner Kommissaren-Kaste. Sie brachten mich zu einer Art Verhör, in ein Büro, gemütlich wie ein jedes Büro zu sein pflegt. Das einzige, was mich interessierte, war das Fenster. Draußen schien die Sonne, und der Tag würde warm und klar werden. Eine Uhr über der Tür zeigte späten Vormittag. Draußen, auf dem Tempelhofer Damm, floß der übliche Verkehr, ohne mich zu beachten. Fußgänger schleppten Einkaufstüten vorbei, keiner von ihnen sah nach oben. Ein Hund pißte an einen Baum und schnüffelte daran herum. Irgendwo hinter mir versuchten zwei Bullen, mich zu verhören. Der eine spielte den harten Jungen, der andere den weichen. Der eine drohte mit Schlägen, mit lebenslänglich, mit Sicherungsverwahrung, mit dreißig Paragraphen aus dem Strafgesetzbuch, und außerdem hätten meine Freunde schon alles ausgepackt. Ich konnte kaum glauben, daß all dies wirklich geschah; es war absurd und lächerlich und wie aus dem Fernsehen. Der Weiche bot mir natürlich Hilfe an, milde Strafen bei Kooperationsbereitschaft; er rief auch mal den anderen zur Ordnung, wenn der mich schüttelte oder mir eine Kopfnuß verpaßte. Nach einer Weile hatte ich genug von der Aussicht aus dem Fenster und sie von ihren fruchtlosen Bemühungen, und sie glaubten mir schließlich, was ich ihnen gleich zu Anfang gesagt hatte, daß sie sich nämlich die Mühe hätten sparen können. Um nicht völlig klein beizugeben, spulten sie noch ein paar Varianten bis zum Ende durch. Auf dem Weg zur Zelle, ich mußte fast lachen: »Jetzt mal ganz privat: Was wollen Sie eigentlich mit diesen Aktionen erreichen?« Und dann war ich wieder in der Zelle und sicher vor diesen Witzbolden, die aber Zellenschlüssel in der Tasche hatten und die vielleicht mit derselben Gründlichkeit foltern würden, wenn es angeordnet wurde ... Spätestens seit im fortschrittlichen, demokratischen Italien Ende der siebziger Jahre im Knast Folter angewandt worden war, um das Versteck des entführten NATO-Generals Dozier zu ermitteln, mochte ich mich lieber nicht auf irgendwelche bürgerlichen Rechte in unserer westlichen Demokratie verlassen. Auch Folter ist eine Frage der Verhältnismäßigkeit der Mittel, der Opportunität, des Augenmaßes oder wovon »Sicherheitsexperten« sonst so reden. Noch konnten Verhöre lustig sein, denn wir waren keine Bedrohung für sie, wir waren zu unbedeutend. Noch konnte ich lachen. Ein Schließer brachte mir Suppe. Immerhin: Der Bullenknast am Tempelhofer Damm bietet gutes Essen, man ist hier bei besseren Leuten, besser vor allem als in den Gefangenensammelstellen wie der Friesenwache oder der Gothaer Straße. Die Gothaer Straße, das würde mein nächstes Domizil sein, kurz oder lang, je nachdem, oh der Haftrichter mich sofort nach Moabit zur Aufnahme in die U-Haft verfrachten ließ oder nicht. Die Gothaer Straße war genau die Sorte Knast, bei der ich an Verliese, Kerker und ähnliches denken mußte. Eine Zelle von wenigen Quadratmetern, ein winziges, blindes Fenster hoch oben, ein Klappbett mit kratziger Decke, tagsüber hochgeklappt und festgekettet, eine Art Klappsitz daneben, in der Wand verankert und durch die jahrelange Benutzung halb herausgebrochen und unbenutzbar, ein Heizkörper. Dazu ein Klingelknopf. Du hattest also die Auswahl: hin- und hergehen, stehen oder auf dem Boden sitzen. Dagegen war der Knast in Moabit das reinste Hotel, mit Bett, Schrank, Tisch, Waschbecken und Klo auf der Zelle - was willst du mehr? Moabit, Mauerbit, Dynamit. Ich machte mir aus Papierschnipseln Buchstaben und Zahlen, rechnete, bildete Kreuzworträtsel, sang ein paar Lieder, oder ein paarmal dasselbe, versuchte zu schlafen oder an nichts zu denken, und vor allem nicht zu warten. Ich wartete. Manchmal hallten Schritte, klirrten Schlüssel - der Atem der Behörde, der Herzschlag der Verwaltung, in deren Magen aus Stahl und Stein ich hockte und auf den Fortgang des Verdauungsprozesses wartete. Wenn ich Stimmen, Schritte, Schlüssel hörte, zwangen fremde Kräfte mich nach oben und wollten mich dazu bringen, mich aufzusetzen, aber nein, sie wollten nicht zu mir. Jemand anders wurde verwaltet, die Geräusche entfernten sich. Die Zeit zog sich wie wenig Teig auf einem zu großen Backblech. Morgens war es zu warm gewesen, noch von der Nachtheizung, jetzt wurde es zu kalt. Irgendwo, hier oder anderswo, erlebten vielleicht die anderen jetzt dasselbe. Was war mit Hassan geschehen? Was war draußen, in der großen weiten freien Welt? Aufregung, Unruhe, Verwirrung, wenigstens für eine kurze Zeit, bei einigen Menschen, eine »Abendschau« lang. Ja, mir ging es gut, den Umständen entsprechend. Es hatte ja gerade erst angefangen, das Leben in der fremden neuen Welt.

Nach längerer Zeit, es mußte Mittag sein, wurde ich in meinem Dämmern und Denken gestört durch zwei Schließer, die mich durch Gänge und Gitter in einen kahlen Raum geleiteten. Ein Tisch, zwei Stühle. Anwaltsbesuch. Die Tür hatte keine Klinke, aber einen Spion.

Ich hatte nur Fragen, einen riesigen Sack voller Fragen, aber ich bekam sie nicht richtig raus. Wer war verhaftet, wer eventuell nicht, wo überall waren sie, die Bullen, und wo eventuell nicht, was machten die Leute draußen, was wußten sie, wer wußte was, was war wo, wo war wer?

Er versuchte, mir zu antworten, aber das war nicht so einfach; er ließ mich Vollmachten unterschreiben und fragte, ob meine Meldeadresse auch meine wirklich Wohnadresse Wkf.

»Da sind sie auch zugange, natürlich«, sagte er, »seit 'ner ganzen Weile schon. Und sie lassen niemanden ran, keine Zeugen, nicht mal uns Anwälte.« »Und Festnahmen? Waren Festnahmen außer uns fünf?«

»Nicht daß ich wüßte. Nur ihr aus dem Auto. In den Wohnungen wurde niemand angetroffen, soviel mir bekannt ist. Und wer da noch wohnen sollte, geht vielleicht besser erst mal nicht nach Hause. Im Moment ist ja der Auflauf vor den Häusern kaum zu übersehen, und im Radio war auch schon was. Das wird sich schon überall rumgesprochen haben. Du kannst mir ja sagen, wenn noch jemand verständigt werden soll.«

»Hm? Nein, schon gut. Das regelt ihr schon.«

»Na, wir werden sehen. Vor den Haftrichter kommst du jedenfalls heute nicht mehr; sie führen alle einzeln vor, damit ihr euch nicht begegnet, und das Programm schaffen sie heute nicht. Und von Akteneinsicht ist natürlich keine Rede. Du weißt es ja, nehme ich an, der Vorwurf ist $ 129a, terroristische Vereinigung, und da gibt es eh keine Chance, weil allein der Tatvorwurf schon für den Haftbefehl ausreicht. Du kennst das ja. Ihr werdet 'nen langen Atem brauchen.«

»Tja«, sagte ich, »so sieht's wohl aus. Wie geht es den anderen denn nun?«

»Der, wie heißt er, Hassan, ist verletzt. Der war wohl am Steuer? Ist in der Straßensperre hängengeblieben, wie es aussieht, aber nichts Schlimmes. Ist jedenfalls nicht im Krankenhaus. Sonst nichts Besonderes. Ich denke, es geht ihnen gut, also den Umständen entsprechend, meine ich ...«

Was entsprach den Umständen?

»So geht's mir auch.«

Der lange Atem wechselte sich mit dem schweren Atem ab. »Heut passiert wohl nichts mehr, was?«

Er konnte gleich zur Tür rausspazieren, nach draußen, und ich wieder in die Zelle.

»Grüß bitte Anna von mir. Und die anderen auch, aber besonders Anna.«

Dann lag ich wieder auf der Pritsche in der Zelle, meiner Zelle, meinem Heim. Was hatte der Anwalt schon sagen können? Haftrichtervorführung, Akteneinsicht, Aussichtslosigkeit, keine Aussagen. Eine Vorführung, bei der wir nur Zuschauer sein konnten. Keine große Überraschung, aber nun war es ausgesprochen, nun war es Wirklichkeit. Der Paragraph 129a, das Kanonenboot der Politik, steckte dich nach Belieben in den Bunker. Da gab es kein Schlupfloch, da nützten fester Wohnsitz, Beruf, Familie nichts, die U-Haft wartete, gnadenlos. Wieder einmal U-Haft, steinerne Sachzwänge, die auf meinen Gedanken lasteten, Gitter im Blick, glatte Wände unter den Händen. Es fing schon an. Es geschah schon nichts mehr, nicht einmal Schlechtes. Nicht ein paar Monate Knast, sondern ein paar Jahre, viele Jahre, die auf Widerruf gestundete Zeit wird sichtbar am Horizont ...

Was ist genau passiert? Die interessanteste Frage des Anwalts, wenn auch nicht in dem Sinne, wie er sie eigentlich gemeint hatte. Was ist passiert, daß ich jetzt hier bin? Ich lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Was war wann passiert? Ich versuchte, eine Verbindung herzustellen zwischen mir, der ich diese Sorte von Zimmerdecke anstarrte, die ich auch die nächsten Jahre über mir sehen würde, und mir, der ich vor fünfzehn Jahren in eine Vorstadt-Schulfabrik gestolpert war und nicht wußte, ob ich laut oder still sein sollte. Und die Verbindung war da, anders konnte es gar nicht sein. Dabei war es doch in solchen Situationen üblich, das bisherige Leben verwundert zu betrachten und sich zu fragen, wieso es so unerwartete und beunruhigende Wendungen genommen hatte. Normal war, daß die Vergangenheit der Gegenwart fremd war und umgekehrt. Es war aber nicht so. Die Verbindung war da, sie gab sich nicht einmal Mühe, wenigstens dramaturgische Schleier um sich zu hüllen. Das hatte nichts mit dem deutschen Herbst 1977 zu tun (mir fiel ein banales Wortspiel ein), denn damals schaute ich mir Fußball an und nicht die Nachrichten. Wen interessierten schon ein paar durchgedrehte Killer, wenn es um das Pokalendspiel ging? Das war sie also nicht, die Verbindung. Sie lag eher in der erwähnten Schulfabrik, in dem Lehrer, der mich am Ohr zog, weil ich ihm zu frech war, oder in dem, der mir sagte, ich widerspräche nur um des Widersprechens willen. Ich hatte immer zurückgezahlt, Beleidigungen, Frechheiten. Oder ich hatte es zumindest versucht. Aber taten das nicht eigentlich alle, zumindest als kind oder in der komischen Zeit zwischen Kindheit und Pubertät - gab es so was? Und wie nannte es sich? Kein Kind mehr - schon über die Schranken des eigenen Glückes hinwegdenkend, aber noch nicht fähig, das auszudrücken; und noch vor der Pubertät - noch vor der Zeit, in der das eigene Glück vollständig zu verschwinden schien hinter der übermächtigen Gewalt des Lebens, der Wirklichkeit. Hatte ich nicht vor kurzem noch meine eigenen Tagebücher gelesen, mit einem seltsamen Gefühl, gemischt aus Nostalgie, Überheblichkeit und peinlicher Berührung? Da hatte ich einmal genau so etwas, genau so dummes Zeug aufgeschrieben, Anfänge, wie es alle anderen auch taten. Und dann war da noch etwas davor, eine Zeit vor dem Beginn der Zeitrechnung, vor dem Ende der Kindheit, das mich im Dezember 1980 ereilte.

Wenn ich mir nichts hatte gefallen lassen, war das eine Verhaltensstörung? War ich trotzig? Opposition um der Opposition willen? Dagegen sein, einfach nur so, weil ich so war, wie ich war, als Widerborst geboren? War das nach Erwachsenen-Maßstäben anormal? Oder normal für Kinder und Jugendliche? Oder etwas besonders Wertvolles, ein Symbol des vorwärtsdrängenden menschlichen Geistes, der niemals befriedigt sein konnte, niemals stehenbleiben wollte?

Ich hatte jetzt das Gefühl, nicht mehr allein durch meine Kindheit zu treiben, sondern unbewußt an einer Verteidigungsrede für einen Prozeß zu basteln. Einen Prozeß, in dem irgendein Gutachter meines Mißtrauens und von Gottes Gnaden nachzuweisen suchte, daß die Ursachen für Gewalt und »Terrorismus« in schwieriger Kindheit und Verhaltensstörungen zu suchen seien. Wieso überhaupt Verteidigungsrede? Ich kam aber zu keinem Ergebnis, denn ich war schon zu tief im Halbschlaf versunken. Die Gedanken wurden zu Ideen, die Ideen zu Bildern, und ich schaffte es endlich zu schlafen - ein kurzer Urlaub, eine Verschnaufpause in einem endlosen Marathonlauf zwischen Wänden, die sich grau und konturlos bis ins Unsichtbare erstreckten.

Hier unten, im Keller des Polizeipräsidiums, war es ruhiger als in einer Gefangenensammelstelle. Ich hörte das Klirren der Schlüssel nicht oft, und jetzt war ich mal wieder dran - die erkennungsdienstliche Behandlung war fällig.

Zwei gelangweilte Bullen brachten mich zum ED-Raum, einer vom Staatsschutz als Aufpasser, einer vom Erkennungsdienst. Er machte sich an seine genormte Arbeit und füllte Formulare aus: Gesicht oval, rund, länglich, Gang schleppend, hinkend, beschwingt, gleichmäßig, Statur schlank, untersetzt, kräftig, dick, bucklig, zwergenhaft, königlich, burlesk, kafkaesk, absurd ... Fingerabdrücke, zehnmal dasselbe, gedrückt, gerollt, Handflächenabdruck. Ich bot ihm einen Fußabdruck an, er reagierte nicht einmal darauf. Fotos, von vorn, von der Seite, nicht von hinten, mit und ohne Nummer. Dann wurde ich wieder zurückgebracht, und unterwegs murmelte der vom Erkennungsdienst allerlei Zeug vor sich hin, von dem ich nahezu nichts verstand, sein Kollege aber auch nicht, wie es schien. Ich hatte auch nicht das Gefühl, es sei an irgendeine bestimmte Person gerichtet. Die Schließer, denen ich übergeben wurde, klapperten und schepperten pausenlos mit ihren Schlüsseln; vielleicht wollten sie damit ihre privilegierte Stellung mir gegenüber betonen.

Nicht lange danach bekam ich ein »Abendessen«: Es mußte also irgendwann am Nachmittag sein, vier Uhr vielleicht, und ein Schichtwechsel stand bevor. So kannte ich es auch aus dem Knast; nachmittags um drei wurde »gute Nacht« gewünscht, und der Nachtverschluß begann. Das Abendessen war eine Plastiktüte mit Graubrotschnitten und Streichkäseecken, nicht eben liebevoll zusammengestellt, aber immerhin etwas. Dazu wurde Tee gereicht und ein Mars. Es stillte wenigstens den Hunger. Die Suppe vom Vormittag war menhir etwas gegen das flaue Gefühl im Bauch gewesen, das stets irgendwo gelauert hatte, aber das war jetzt fort, und zurück war Hunger geblieben; einen Tag in der Zelle sitzen ist Arbeit und macht hungrig. Graubrot und Schmelzkäse schmecken nur im Knast.

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