Februar 1981


Ich ging einmal mit Petra am Landwehrkanal spazieren, der Kreuzberg 61 mit Kreuzberg 36 verband; alle anderen direkten Wege waren öde und leer. Der Landwehrkanal war ein durch und durch schmutziges, träges Gewässer, eingezwängt und vollgemüllt, und dennoch ein Riß im steinernen Panzer der Stadt. Wenn sich der ganze Panzer nicht anders abschütteln ließ als durch dieses Trugbild von Natürlichkeit, dann eben so. Die Enten taten so, als schwämmen sie in freiem Wasser, und wir glaubten es ihnen. Stadtluft macht frei von hohen Ansprüchen.

Für einen Berliner Wintertag war es ganz gemütlich; der Smog hatte sich verzogen, die Sonne machte ihn vergessen, es war nicht so kalt, wie es hätte sein können. Es war ein Tag fiir ziellose Spaziergänge, weil er schöner war als die vorigen. Und es gab einen Grund mehr, nach draußen zu gehen, denn es konnte etwas geschehen. Seit kurzem konnte wieder etwas geschehen, etwas Unvorhergesehenes, der Tritt war nicht mehr so sicher und vorherbestimmbar wie noch vor kurzem. Es gab die Häuser, die Instandbesetzer, die Krawalle, neue Besetzungen, alles war möglich. Alles konnte sich ändern.

»Denkst du schon wieder an die Revolution?« fragte Petra. »Machst du eigentlich auch mal Pause?«

»Nein«, sagte ich, »wieso Pause? Machst du Pause beim Atmen?«

»Wow, toll gesagt, Che Guevara«, sagte sie, »aber mir fällt das Atmen doch noch 'n bißchen leichter.«

Ich sagte nichts. Da war das Urban-Krankenhaus, ein bißchen wie ein Gefängnis, ein bißchen wie eine Wohnfabrik, kein bißchen wie etwas, worin jemand gesund werden konnte. Ein grauer Klotz, Gesundheit für arme Leute, vom Fließband.

»Ich meine«, sagte Petra, »bleib doch mal realistisch. Sich dir die Menschen an. Die sind eben so, wie sie jetzt sind. Gewalttätig und feige, egoistisch und träge. Viele sind ganz zufrieden dabei.«

»Wer ist denn zufrieden?« fragte ich.

»Na, jedenfalls ging es den meisten Menschen noch nie so gut wie jetzt, und die werden so schnell bestimmt nicht umstürzlerisch.«

»Und was ist das für 'ne Zufriedenheit?« fragte ich heftig. »Die Leute stopfen Pillen und Alkohol in sich rein, lassen sich von >Bild< und der Glotze berieseln, die ihnen das Denken abnehmen, und sind einsam, ausgehöhlt, arbeiten vor sich hin, stieren vor sich hin, buckeln und treten; wir leben doch in Zombie-Städten. Und das sind die, denen es noch nie so gut ging wie jetzt! Was ist mit denen, denen es schlechter geht?«

»Das kannste doch nicht alles so verallgemeinern«, sagte Petra, »und selbst wenn es vielen nicht wirklich gut geht, was willst du machen? Gehst du einfach hin und sagst es ihnen? Und dann?«

»Niemand kann was erzwingen«, sagte ich, »aber irgendwo und irgendwie muß es ja mal anfangen. Und wenn genug Leute geschnallt haben, was hier läuft, dann ...«

»Tja, dann«, sagte Petra, »dieses >Dann< hat's schon oft gegeben, und das war meistens Blut, Terror und Elend. Wenn da einmal die Dämme brechen, gibt's kein Halten mehr. Dafür gibt's genug Beispiele.«

»Und was sollen wir machen?« fragte ich. »Ich weiß das doch auch. Selbst wenn du mal abrechnest, was da alles in den Geschichtsbüchern an Lügen steht. Tausendmal ist es vielleicht schiefgegangen, aber irgendwann muß es einfach mal klappen.« Ich merkte selbst, wie schwach dieses Argument war. Wie sollte Hoffnung gegen Rationalität bestehen? Mit Idealismus ließ sich nicht argumentieren. Ich wollte sagen: Ich weiß um die Opfer, um die Not, die jede Revolution mit sich bringen wird. Und wenn ich manchem Feind diese Not auch gönne, so ist mir doch klar, wie ungerecht sie ist und wie wenig sie sich mit meinen hohen Idealen von der freien Gesellschaft verträgt. Und trotzdem glaube ich, daß du gleichzeitig unrecht hast, Petra, denn Elend und Terror, von denen du redest, haben viele Gründe, und nicht der geringste davon ist die Rücksichtslosigkeit und Immoralität derjenigen, die gegen die Revolution kämpfen. Scheitern nicht Revolutionen oft an feindlichen Nachbarstaaten, am Verlust der überzeugtesten Menschen im Befreiungskampf, wo sie in vorderster Front stehen, oder am zähen Widerstand der Konterrevolution? Zu schweigen von innerer Zerstrittenheit und der Frage, was nach dem Sturz der Denkmäler kommen soll. Und trotz alledem, wollte ich sagen, muß es versucht werden. Aber schon beim Denken merkte ich, daß in Petras Augen all dies nicht annähernd gegen ihren Einwand ankommen würde. Denn sie hatte ja auch recht, und wenn ich manche Schattenseiten der Revolution mit klugen Argumenten entschuldigen konnte, so hatte ich sie damit noch längst nicht legitimiert. Und wenn ich zum Schluß wieder darauf käme, daß es dennoch versucht werden müsse und daß die vorgebrachten Entschuldigungen zumindest ein ethisches Gewissen der Revolution beweisen sollten, wäre ich doch wieder bei der Hoffnung auf das Gute gelandet, mit der ich nicht überzeugen konnte. Ich fand die richtigen Worte nicht.

»Sehr überzeugend ist das ja nicht«, sagte Petra. »Überleg lieber mal, wie du es besser machen willst als all die anderen vor uns. Vor 'nem halben Jahr oder so hast du mal selbst gefragt, wer denn eigentlich das Recht hat, über Leben und Tod zu entscheiden. Hast du inzwischen die Antwort gefunden, oder was?«

Ich erinnerte mich dunkel. Seltsam, dachte ich, haben wir jetzt die Rollen vertauscht? Hat sich so schnell alles gedreht) Bin ich jetzt jemand ganz anderes geworden, ein potentieller Killer, ein kompromißloser Kämpfer? Unsinn, ich will nur, daß alles anders wird, daß alles klar und offen ist.

»Eins ist doch wohl klar«, begann ich etwas lahm, »also, du sagst ja selber, Menschen sind erst mal gewalttätig - « »Männer, wolltest du sagen«, warf sie ein.

»Hm, ich meine, die sicherlich am meisten«, sagte ich verwirrt, »aber was ich sagen wollte, diese Gewalt ist Realität, ob sich nun welche prügeln oder psychisch unter Druck setzen oder Kriege führen, die steckt überall drin. Und wir unterstützen dauernd Gewalt, die woanders abläuft, zum Beispiel wenn wir Obst aus Südafrika kaufen, oder denk an die Gewalt gegen Tiere, gegen die Natur.«

»Wo willst du denn jetzt hin?« fragte Petra irritiert.

»Ich will erst mal sagen, daß Gewalt so tief überall drinsteckt, daß die sich nicht so einfach abschaffen läßt. Und dann meine ich, wenn das so ist, dann muß es einen Maßstab geben, wie du mit der Gewalt umgehst. Wir haben doch damals gesagt, daß es ein Notwehrrecht gibt, daß zum Beispiel Hitler hätte getötet werden dürfen, oder? Also, dann muß es doch eine Moral geben, die töten erlaubt, und dieses Gebot >Du sollst nicht töten< funktioniert nicht so einfach. Und wenn es Gründe gibt, die das Töten rechtfertigen - wer legt die denn fest? Das sind doch Menschen, die das festlegen, und nicht die Bibel. Oder wie soll das sonst gehen?«

»Das ist mir alles zu abstrakt«, sagte Petra. »Wenn irgendwelche Massenmörder wie Hitler getötet werden, ist das doch was anderes, als wenn im Namen der Revolution die tatsächlichen oder vermeintlichen Gegner hingerichtet werden.« »Natürlich«, sagte ich und fühlte mich unverstanden, »das meine ich ja auch nicht. Ich will ja nicht gerne Leute umbringen, sondern ich sage, oder vielmehr ich frage mich: Verbietet dir die Moral allgemein das Töten, oder geht es darum herauszufinden, wann und wer.«

»Na, viel Spaß«, meinte Petra, »da will ich lieber nicht dabei sein, wenn die revolutionären Helden darüber entscheiden, was die Moral gebietet.«

»Ja Scheiße«, sagte ich, »natürlich klingt das alles zynisch, aber ich klinge lieber zynisch, als den Kopf in den Sand zu stecken!«

»So, ich stecke den Kopf in den Sand?« sagte Petra. »Vielleicht sehe ich die Dinge auch nur etwas anders als du. Vielleicht glaube ich einfach, daß es auch andere Wege zur Veränderung gibt. Wie zum Beispiel die Ökologiebewegung zeigt. «

»Ach ja«, sagte ich spöttisch, »die Grünen, und die AL hier, in ein paar Jahren wirst du ja sehen, was aus denen geworden ist. Dann sind die höchstens 'ne kleine SPD. Die hat ja auch mal so angefangen, von Veränderungen auf friedlichem Weg geredet, und verändert haben die sich vor allem selbst, aber nicht zum Besseren.«

»Dann sind wir ja quitt«, sagte Petra, x du erreichst mit deiner Gewalt nichts, und ich erreiche ohne Gewalt nichts. Nur bei meiner Methode fließen nicht so viel Blut und Tränen.«

»Du meinst, sie fließen nicht hier, wo du sie sehen kannst«, sagte ich, »und es ist nicht >meine< Gewalt.«

»Ob das Blut nun hier oder woanders fließt, meine Güte, als ob das was ausmachte. Willst du das miteinander verrechnen?«

»Nein, das machst du, wenn du behauptest, es ginge den Menschen hier gut«, sagte ich. »Uns geht's nur gut, weil es anderen schlecht geht. Und dabei geht's nicht mal uns wirklich gut. Gut geht es höchstens denen da oben. Und mit denen willst du reden? Die lachen doch über dich.«

»Und über dich nicht, was? Als ob Steine irgend etwas bewirkten«, sagte Petra.

»Tun sie doch«, sagte ich. »Die Häuser werden nicht geräumt, und alle reden von der Wohnungsnot. Die gibt's schon lange, nur vor den Steinen hat's niemand interessiert.« »Na gut, vielleicht. Aber die Revolution isses ja nicht gerade.«

»Es ist der verdammte Anfang, verstehst du nicht?« sagte ich. »Es ist die einzige Chance. Wenn es so nicht geht, geht es überhaupt nicht. Das meine ich jetzt. Gewaltfrei, gut und schön, aber das reicht nicht. Es ist mir die Toten wert, und, ich weiß, es klingt zynisch, es ist mir sogar Tote wert, die zu Unrecht sterben; heute sterben Millionen ständig zu Unrecht. Vielleicht rechne ich jetzt mit Menschenleben? Das ist, weil ich hoffe, weil ich die Chancen suche: die Chance für eine völlige Umwälzung. Es geht doch darum, dieses ganze Morden und Siechen zu beenden. Es werden viele Menschen für diese Chance sterben, und vielleicht die meisten auf ungerechte Weise, aber wie vielen Menschen würde damit heute und in Zukunft Leben und Würde geschenkt? Ist denn das heutige Leiden und Sterben normal, so daß du es zum Vergleich heranziehen kannst: Dann und dann sterben mehr oder weniger Menschen, fließen mehr oder weniger Blut und Tränen? Wenn ich an mich denke: Ich will lieber zu Unrecht für die Revolution sterben als zu Unrecht an Krebs oder Hunger.«

»Gut gebrüllt, Löwe«, sagte Petra, »aber ich bin in Mathe so schlecht.«

»Du bist egoistisch, das bist du«, sagte ich sauer, »weil nämlich die ganze Gewaltfreiheit der reine Egoismus ist, weil es nur darum geht, das eigene Gewissen rein zu halten. Nur nicht die Hände schmutzig machen, und wenn andere fertig gemacht werden, haben die eben Pech gehabt. Vielleicht sollen die Indios in Guatemala mit den Todesschwadronen diskutieren? Notwehr ist gerechtfertigt, und die Revolution ist nichts anderes als Notwehr. Notwehr gegen alle Ungerechtigkeit, Unterdrückung, Ausbeutung, Gewalt. Warum kapierst du das nicht?«

»Vielleicht kapierst du ja auch mich nicht«, entgegnete Petra. Du wirst es schon noch verstehen, dachte ich. Wenn du erlebst, was ich erlebt habe, im Dezember, oder vielleicht auch ohne so ein Erlebnis. Jeder Mensch wird es irgendwann verstehen. Irgendwann einmal. Ich werde es vielleicht nicht mehr erleben, aber irgendwann ... und vielleicht auch schon bald.

»Da sind Wannen«, bemerkte ich.

»Da sind was? Ach so, diese Mannschaftswagen«, sagte Petra mäßig interessiert.

Ein Haus war besetzt worden. Vor dem Eingang standen Menschen, eng zusammengedrängt, in erregter Stimmung. Vor ihnen waren behelmte Polizisten. Petra ging nach Hause, ich blieb da. Etwas später prügelten die Polizisten auf die Menschen los, weil die ihnen den Weg versperrten. Sie prügelten einfach nur los, wer immer ihnen im Weg stand. Neben mir stieß einer von ihnen einer Frau die Faust mitten ins Gesicht, ansatzlos, ich mußte schlucken. Reden war eine Sache, Zuschauen eine zweite, aber nun stand ich mittendrin in der Gewalt. Zum ersten Mal mußte ich mich konkret entscheiden, ob ich wirklich meinte, was ich sagte. Als wir den Schilden, Helmen und Knüppeln gegenüberstanden, spürte ich, daß ich es nicht nur meinte, sondern in jeder Faser spürte. Vor mir standen die Bullen, die Marionetten der Gewalt, und Neugierde und sogar Angst wurden aus meinen Gefühlen verdrängt: Haß. Das war etwas Neues.

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