November 1989


Da waren sie wieder, die holzgetäfelten Wände, die verschieden hohen Sitze, Panzerglas vor den Fenstern, die hoch wie im Kirchenschiff waren. Das Gericht hockte gnomartig da vorn und sprach zu leise. Auf der anderen Seite saßen die Zuschauer und paßten nicht in die Räumlichkeit. Die Bänke waren voll, auch etliche Zivilbullen hatten sich breit gemacht, aber die waren leicht auszusortieren, da ihre Tarnung lückenhaft war, wozu hätten sie sich auch tarnen sollen? Aber da waren auch Goran und Anna und Isa und sogar Silvio und viele andere, deren persönliche Daten jetzt wohl schon beim BKA archiviert worden waren, nachdem ihr Ausweis bei Einlaß zum Gerichtsgebäude fotokopiert und ihnen alles abgenommen worden war, das nach einer Waffe aussah, zum Beispiel Bleistifte, Schlüssel, Papiere und Butterbrote. Sie machten soviel Lärm, wie sie sich gerade noch erlauben konnten, denn der Vorsitzende Richter verkündete ab und zu, er werde den Saal räumen lassen, wenn nicht bald Ruhe herrsche. Ich mußte dabei an Comics denken, an Richter aus Lucky Luke, oder an Gallier-Häuptling Majestix, der auf den Tisch klopfte und rief: »Ruhe, oder ich lasse das Dorf räumen!« Und da waren Hassan und Carmen und Judith und Boris, die ich eine kleine Weile nicht gesehen hatte, ich glaubte gar nicht, daß es schon fast neun Monate gewesen sein sollten, aber beim Hofgang zog mein Atem schon in weißen Wolken davon, und wenn die Schließer nachmittags »gute Nacht« sagten, war es schon glaubhaft, denn es wurde bereits dunkel.

Wir feixten und redeten und versuchten uns irgendwie auch auf den Prozeß zu konzentrieren, gleichzeitig aber auch davon zu distanzieren, uns nicht in den Strudel der Aktenlogik ziehen zu lassen. Ich mußte die ganze Zeit an den Prozeß gegen die Bewegung 2. Juni denken, als zur Urteilsverkündung Ralf Reinders sich »Egal« aufs T-Shirt geschrieben hatte. Ich versuchte, mich auch so zu fühlen. Manchmal klappte es sogar.

Ist »Prozeß« nicht etwas Fortschreitendes, eine Entwicklung? Hier war es nicht so. Es war ein Abgesang, ohne daß es ein Thema gab, auf das die Singenden sich hätten einigen können. Das Gericht wollte über uns, unser Tun und unsere Ideen den Grabgesang anstimmen, und wir sangen dagegen über den reißenden Strom, die Normalzeit, das Panzerglas, die anderen Wege. Mit unserer Prozeßerklärung warteten wir bis zum Schlußwort, auch damit sie nicht zum Gegenstand weiterer Versuche werde, unsere Worte zu ersticken und zwischen Aktendeckel zu pressen. In der Zeit vor diesem Schlußwort hatten wir wenig zu tun. Zuhören oder es sein lassen. Aktenworte polterten aus den Mündern des Gerichtes zu Boden und blieben dort liegen, sie sammelten sich langsam zu Häufchen. Kriminalhauptkommissar Schulze berichtete, wie er welchen Vermerk an wen weitergeleitet hatte und wer den Vermerk noch gesehen hatte, und unsere Anwälte hakten nach, und Carmens Anwältin fragte, wann welcher Vorgesetzte Herrn Schulze angewiesen hätte, Blatt 95 der Akte zu entfernen und wieso dieses Blatt jetzt offenbar bei der Handakte der Staatsanwaltschaft zu finden sei ...

Manchmal sah ich zu den Zuschauern hinüber und freute mich, manchmal sprach ich mit den anderen, meist ohne große Wichtigkeiten auszutauschen, einfach nur so, um zu sprechen, um die neun Monate wenigstens etwas aufzuwiegen, und manchmal hörte ich auch den Visionen des Staatsanwaltes zu. So sehr ich mich auch entfernen wollte von diesem Geschehen, mein Bauch blieb immer sitzen, war aufmerksam, sprungbereit, zurückgezogen. So klar mir im Kopf war, daß all dies ein Theater war, so unklar war das meinem Bauch. Ich ertappte mich beim Hoffen, und wenn ich die anderen ansah, schien mir das bei ihnen ähnlich zu sein. Judith drängte das zurück, indem sie laut sprach und der Staatsgewalt wütende Blicke sandte. Hassan machte Witze. Boris war ruhig und vorsichtig. Carmen war vernünftig. Wir suchten uns, um zusammen auszuhalten. So viele Gedanken wir uns auch dazu gemacht hatten, nun saßen wir hier, und es war doch etwas anderes, es wurde greifbar. Wir und niemand anders mußten es schlucken, und ich fragte mich, wie wir das Ende runterbekämen. Aber wenn ich uns ansah, war ich zuversichtlich; wenn ich die Leute hinter der Barriere ansah, wurde mir warm ums Herz; wenn ich die Richtenden da vorn ansah, hätte ich ihnen am liebsten ins Gesicht gelacht.

Es gab Verhandlungspausen, in denen wir zu fünft fast allein waren und ein paarmal sogar mit Menschen von draußen reden konnten, und natürlich wurden ein paar flüchtige Küsse und Blumen mit Saalverbot und Ordnungshaft bestraft. Und es gab neue Termine und neue Vernehmungen, und es gab kaum Skandale, abgesehen von den üblichen, den kleineren Manipulationen von Staatsanwaltschaft und Bullen, die ab und zu aufflogen, falsche Gutachten, Mißinterpretationen, freche Unterstellungen. Der Prozeß-verlauf wurde davon nicht entscheidend beeinflußt. Ich dachte, daß mich einiges hier vor nicht vielen Jahren noch sehr empört hätte, weil es doch nicht im Einklang mit liberalen bürgerlichen Rechtsgrundsätzen zu stehen schien. Zum Beispiel das ständige Zurückweisen der Anträge der Verteidigung oder das Zurückhalten so mancher Akten durch die Staatsanwaltschaft. Daß wir zuletzt verurteilt würden, stand jedoch außer Frage. Und das nahm dem ganzen Vorspiel doch ein wenig die Würze.

Auch dieses zuletzt kam irgendwann. Unsere gemeinsame Erklärung traf auf versteinerte Staatsgesichter; die Ohren hatten Schilder »vorübergehend nicht besetzt« rausgestellt. Nur der Staatsanwalt machte sich ohne Eifer Notizen. Die zuschauenden und -hörenden Menschen hatten mehr Spaß daran, denn wir hielten keine langen und ermüdenden Vorträge. Es war aber auch kein Höhepunkt der Unterhaltung. Was wir sagten, würde bald irgendwo in Info-Läden kopiert ausliegen, und vielleicht würden sogar Leute das lesen, aber es kam uns nicht vor, als ob es sonderlich neu wäre oder als ob es unbedingt notwendig war, es gerade jetzt und hier zu wiederholen. Es gab aber auch keinen Grund, es nicht zu tun. Und es gab uns eine gemeinsame Stimme, ein Gefühl, das für die kommende Zeit von Bedeutung war. Wir sprachen mehr für uns als für andere, legten symbolisch die Hände ineinander, wußten, daß wir nichts zu bereuen hatten. Das war das Entscheidende.

Das Gericht hatte sich verzogen, wir warteten auf den aufsteigenden weißen Rauch, der die Entscheidung ankündigte, Ich sah aus dem Fenster. Das Panzerglas, hart und glatt, wollte meine Blicke aufhalten, aber es gelang ihm nicht. Und ich dachte mir, daß dieses Glas eben doch brechen würde und daß es richtig war, alles zu versuchen, daß es brach. Die Steine dafür warfen wir letztlich von innen, aber das hatte auch seinen Sinn, denn wir waren ja nicht erhaben, wir standen nicht über den Dingen, und was fallen und splittern mußte, sollte ja auch und zuerst in uns selbst fallen und splittern. Daß andere uns diese Splitter in uns selbst vorhalten würden, ließ sich nicht ändern, das würde immer so sein. Das war ja auch gut so, und es war allemal kein Anlaß, sich zurückzulehnen im revolutionären Sessel und andere machen zu lassen. Im Gegenteil. Der Vorsitzende Richter faselte vor sich hin, am soundsovielten fuhren die Angeklagten gemeinsam im Fahrzeug des Derundder nach Hierundda, um dort einen Brandanschlag zu verüben ... Ich war längst weg, mit den anderen, wir glitten wie ein Windhauch zwischen den Bänken hindurch und streichelten die Menschen, flatterten hoch unter der Decke und strömten durch alle Poren des Glasbunkers nach draußen, um in der freien Luft zu atmen.

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