Januar 1987


Moritzplatz. Links schimmerte durch den Smogdunst das Licht von Nixdorf. Gespenstische, orange leuchtende Fensterscheiben, Kameras an der Fassade, davor ein nutzloser gepflegter Rasen und Gitterzaun. Die Fabrik war ein Fremdkörper aus einer anderen Welt, am Rande des Dorfes - unseres Dorfes - eingepflanzt und wuchernd. Die LKWs hatten bereits die Prinzenstraße überwunden und einen Parkplatz erobert, natürlich auch kameraüberwacht. Seit Jahren provozierte dieses unheimliche Bauwerk frech und unverhohlen. Wer glaubte, nur Maschinenstürmer könnten an Computerfabriken etwas Unheimliches finden, brauchte nur einen kurzen Winterspaziergang entlang des Nixdorf-Geländes zu machen, um nachdenklich zu werden. Daß dort Menschen arbeiteten, schien bei Nacht besehen unvorstellbar. Rechts lag der Grenzübergang, der nicht viel gemütlicher aussah. Überdachte Fahrspuren, weiße Lampen, containerförmige Betonhäuschen, ein Vorposten der Bullen am Rande von Kreuzberg 36. Hier endete unser Dorf. Es folgten Siedlungen der kranken fünfziger Jahre, Häuser wie Legosteine, dunkle Parkplätze mit Zivis, die auf Autoknacker warteten, einsame, von Zäunen eingeschlossene Fußballplätze, traurige Supermärkte. Die Kälte und der Smog machten die Luft dünn und hart und vertrieben die letzten Menschen von der Straße, hinein in ihre miefig-warmen Stuben mit Einbauküchen und Farbglotzen, wo sie immer neu vergaßen, was Leben bedeutet. Ein leerer Nachtbus leierte seine Route an verwaisten Haltestellen vorbei, vor ihm die leere Straße. Es waren überwiegend Taxis und Bullenfahrzeuge, die noch unterwegs waren.

Und wir. Wir kamen an der Bundesdruckerei vorbei, die noch martialischer gesichert war als Nixdorf. Dasselbe, immer dasselbe: gelbliches Licht, Kameras, Metallzäune, Drahtzäune, Pförtnerzellen, Stahltore. Vorbeizugehen war verdächtig. Nur bei Schichtwechsel, wenn die Menschen von der Arbeit herausströmten, änderte sich etwas, bekam das Stahlmaul einen fast humanen Ausdruck. Die Straße war dann vollgeparkt mit den Autos, in denen Mann oder Frau auf ihre Partner warteten, jeden Tag zur selben Zeit. Und auch daran fuhren wir vorbei, ließen die letzten Reste unseres Kreuzbergs hinter uns, links die Internationale Bauausstellung, Abteilung Neubau, deren angeberisch fantasievolle Bauten so lecker und echt aussahen wie die Schaufensterdekoration einer Konditorei. Als nächstes war Springer dran, Kameras, Schweinwerfer, Zäune ... Uns entgegen kamen die Bullenwagen und Zivilfahrzeuge aus der Polizeiwache Friedrichstraße, Abschnitt 53, zuständig für Kreuzberg 36. Das Gebäude sah stark nach Nazi-Architektur aus, genau wie das gegenüberliegende Arbeitsamt. Der Smog sorgte dafür, daß wir von den entgegenkommenden Autos lange nur die Scheinwerfer sahen, matt und unscharf. Runde Scheinwerfer, etwas höher über dem Boden als normal, etwas dichter zusammen als bei anderen Autos: Ein VW-Bulli. Genauso konnten wir die Autos natürlich auch am Motorengeräusch unterscheiden. Ein lauter Mercedesmotor: eine Taxe. Ein untertouriger Diesel: Zivis. Es machte Spaß, sich darauf zu konzentrieren, aber jetzt war es noch nicht wichtig, und das Fenster blieb besser zu. Es stank nach Abgasen und Ofenheizung. In den Straßen von K 36 lag noch dazu der Geruch der Neuköllner Pralinenfabrik, Schokolade bis zum Erbrechen.

Das Wetter war nicht gerade eine Aufforderung zum Sprechen. Draußen die Kälte, der Smog, das ewige Stadtgeräusch, das wir Stille nannten, dieses undefinierbare Rauschen im Hintergrund, das ständige Testbild, das nie aufhört; genauso wie die Nacht, die nie richtig dunkel wird, die Licht, Schatten und Dämmerung vermischt und unkenntlich macht. Draußen das tote Land zwischen der südlichen Friedrichstadt und der City, angefüllt mit abstoßenden Gebäuden, alt und neu, Bullen, Brachland, Selbstmordhochhäuser, Magnetbahn, IBA und andere Scheußlichkeiten, und dann das lachhafte »Kulturzentrum«, wo ein paar klotzige Gebäude herumlungern, als wüßten sie nicht, wo sie hingehören, als seien sie hier wie Müll abgeladen worden. Danach dann der Tiergarten. In Berlin ist alles immer entweder klotzig oder eng, meistens beides.

Die Mauer leuchtete rechts, vertraut und ruhig, die sah wenigstens immer und überall ziemlich gleich aus. Die Sicherungsbauten und -maßnahmen in ihrer altmodischen 50er-Jahre Tranigkeit schienen mir fast schon beruhigend, weit entfernt noch von der glatten, computergesteuerten, perfekten Sicherheit der Plastikmenschen im freien Teil Berlins. Da war schließlich die Entlastungsstraße, um diese Uhrzeit selbst entlastet. Ein Wagen der Military Police zockelte vorbei. Da war die Straße des 17. Juni, rechts das Brandenburger Tor, links weit weg die Siegessäule - es lebe der Krieg, solange Deutschland siegreich bleibt! -, ganz nah das »Denkmal« für die Maueropfer, das ich schon oft gerne umgefahren hätte.

»He, wie sieht's aus, wollen wir's nicht endlich mal umnieten?«

»Was sagst du?« fragte Judith.

»Diese kleine Mauer dort, das Kalte-Kriegs-Denkmal«, sagte ich und deutete darauf. Wir waren vorbei.

Da stand der Reichstag, die Fahnen flatterten matt hin und her. Alles sah sehr still aus, und das dunstige Licht machte es noch stiller.

»Sind ja wenig Bullen unterwegs heute«, murmelte ich und starrte nach draußen.

»Heute abend waren's viele«, sagte Carmen.

»Wo denn?« fragte ich.

»Naja, im Kiez eben. Als ich nach Hause kam, war alles voll.«

»Das war vielleicht wegen des Staatsbesuchs«, sagte Judith, »heute war doch so ein unbedeutender König oder irgendsowas in der Stadt und durfte mal über die Mauer linsen.« »Hab ich nichts von mitgekriegt«, sagte ich.

»War in der Abendschau«, sagte Carmen.

Judith sah auf ihre Uhr. »Wir sind viel zu früh dran. Können uns Zeit lassen.«

»Wir können ja auch mal eben ins Kino fahren.«

»Was gibt's denn da? Hat jemand was parat?« fragte Carmen und drehte sich nach hinten zu uns um.

»Nichts Besonderes. Ist schon zu spät, gibt ja unter der Woche kaum Spätprogramm«, sagte Boris lustlos.

Da war der Hafen. Wieso es in Berlin so was wie einen Containerhafen gab, leuchtete mir nicht ganz ein. Immerhin, da war er. Rechts Industrie, links Industrie, Berlin, Deutschlands größte Industriestadt. Scheinwerfer, Flutlichtmasten, Wachschutz, Metallzäune, Metalltore ... Nutten waren keine zu sehen, das Wetter war auch wirklich nicht danach, und bei den Speditionen war um die Zeit eh noch tote Hose. Ein paar Plakatwände mit bunten Bildchen und peinlichen Texten versuchten erfolglos, so etwas wie Bewohnbarkeit vorzutäuschen. So ungefähr stellte ich mir Amerika, das Yankee-Land, vor. Kaum hatten wir das tote Gebiet einigermaßen hinter uns gebracht, leuchteten vor uns schon die giftgelben Wolken von Schering anheimelnd: Das war der Wedding.

»Bei Schering ist immer was los«, sagte Judith abfällig.

»Den einen Teil des Mülls schmeißen sie in den Kanal«, sagte Boris, »und den anderen in die Menschen. «

»Was ist das hier überhaupt für'n Kanal?« fragte Judith.

»Spandauer Schiffahrtskanal«, sagte Boris.

»Jaja, Berlin, die Stadt der Brücken. Mehr davon als Venedig.«

»Is ja doll.«

»Aber mit S-Bahn-Brücken vermutlich.«

»Da ist Schering«, sagte Carmen.

Blaugetönte Scheiben, moderne Architektur, Alu- und Stahlfassaden, gelbes Licht, Kameras, Zäune, Tore, Pförtnerzellen ... Und aus Ritzen und Schornsteinen böse Gerüche, die den Verdacht nährten, da sei auch Giftiges, das nicht zu riechen war. Wie die Kommandobrücke über einem Schiff thronte Schering über dem unteren Wedding, oder wie der Vulkan auf King Kongs Insel, inklusive der schwefligen Wolken.

»Ach Scheiße, mein Adressbuch«, sagte ich, »jetzt hab ich es doch dabei.«

»Fällt dir ja früh ein«, sagte Carmen.

»Ich laß es im Auto liegen.«

»Wirste wohl müssen. Das passiert dir auch wirklich jedesmal.«

Es mußte wirklich an alles gedacht werden. Aber falls sie uns doch einmal erwischen sollten, brauchte ich dem Staatsschutz meine Bekanntschaften und Verabredungen ja nicht unbedingt schriftlich zu servieren, als Dreingabe für's Personenprofil sozusagen ...

»Schaut mal, da sind ja die anderen. Die sollten doch nach uns losfahren?« meinte Judith.

«Haben mal wieder nicht aufgepaßt, die Penner«, sagte Carmen und überholte sie am Nettelbeckplatz.

»Wo fährst du jetzt lang?« fragte ich.

»Noch mal an der Pank-Wache vorbei, nur so«, sagte sie. Die Wache in der Pankstraße lag ruhig und ganz harmlos da, I4eubaufenster mit aufmontierten Fensterkreuzen, davor ein einsamer Wachbulle, der sich in der Einfahrt langweilte. Die MP lugte schwarz hinter seinem Rücken hervor.

»Wißt ihr die Worte noch?« fragte ich.

»Ja, ähm ... Anfangen ist >Alpha< «, sagte Judith, und >Beta< ist Unterbrechen, und >Gamma< heißt abhauen ...«

»Und >Delta< heißt, wir sind fertig«, sagte Carmen.

»Und weitermachen ist >Omega<, sagte ich. »Und noch was. Haben wir eigentlich zu Ende besprochen, was passiert, wenn jemand verletzt wird?«

»Ja, klar, ist doch alles klar«, sagte Judith und fuchtelte mit ihrer Kippe herum, »kann sein, daß du da grad nicht dabei warst; wir müssen dann eben gucken, wie weit jemand transportfähig ist, und im schlimmsten Fall liegenlassen, aber wirklich nur im schlimmsten, und dann rufen wir ein Krankenhaus an.«

»Hm. Wir bräuchten Fachleute, eigentlich«, sagte ich.

»Wenn wir schon auflisten«, sagte Carmen, »also, der Treffpunkt hinterher. Wenn was schiefläuft, erst mal abwarten. Sonst in der üblichen Kneipe, du weißt schon. Was Besseres ist uns ja nicht eingefallen gestern, das wird schon in Ordnung sein. Und dann morgen um zehn Uhr. Wir müssen ja noch die Erklärung fertig machen.«

»Ich dachte, die ist schon geschrieben? Silvio hat doch was vorgelesen«, warf ich ein.

»Ja, schon, aber er wollte noch was ändern«, sagte Carmen, »und dann kommen ja vielleicht noch Infos aus dem Laden dazu. Und dann muß das Zeug verschickt werden. Also morgen um zehn, und zwar am selben Ort wie letzten Dienstag.« »Klar«, sagte ich, »wir sind perfekt organisiert.«

»Na logo «, sagte Boris, »demnächst vermieten wir noch Räumlichkeiten an die RAF, weil wir so viel Auswahl haben.«

Wir flachsten herum, während die Häuser draußen vertrauter wurden. Es fing an. Wir fuhren durch eine Gegend, die ich in den letzten Wochen oft gesehen hatte, bei Tag und bei Nacht. Der Verkehr hier war dünn, so, wie er sein sollte, wie er immer war. Trotzdem schien er plötzlich viel stärker als sonst. In den Pausen zwischen zwei Autos war es dabei so still, daß jedes Husten weit zu hören sein würde. In den Häusern war noch viel Licht; was hatten die nur alle mitten in der Woche so spät zu tun? Und die vielen Leute auf der Straße? Alles Bullen? Es waren Säufer, Freaks, Prolls, wer auch immer, und es waren eigentlich eher wenige. Die Taxen blieben leer.

»Schaut mal, Zivis.«

»Ja, aber dit sind ja 08/15-Zivis, Golf mit drei Mann drin, ist ja langweilig«, sagte Boris. Ich sah nur aus den Augenwinkeln hin. Im Bauch machte sich langsam ein Gefühl von Unruhe breit und von Anwesenheit. Der Bauch wurde mir plötzlich sehr bewußt. Da saß er, mulmig. Er forderte Aufmerksamkeit und beanspruchte Energie, die er abzog von den Sinnen und den Armen und den Beinen. Hier bin ich, dein Bauch, pflege mich. Tu nichts Gefährliches, schütze mich, leg dich lieber ins warme Bett wie alle vernünftigen Menschen, oder iß etwas, oder besauf dich meinetwegen. Aber tu nichts Gefährliches. Ich will es nicht, ich, dein Bauch. Ich lähme dich. Ich hänge mich an dich und mache mich ganz schwer. Ich lasse deine Hände kalt werden und zittern und schwitzen. Ja, siehst du, schon mußt du die Hände bewegen, an der Jacke trocknen, kannst sie nicht mehr lange an einer Stelle lassen, sie werden feucht und schwer. Es ist so still draußen wie nie zuvor, hörst du nicht, und alle Menschen sind Zivis, alle Autos haben im Handschuhfach Funkgeräte versteckt. Die Taxifahrer sind Hilfsbullen. Über den Dächern schweben amerikanische Hubschrauber, aber lautlos, wartend. Sie warten auf dich.

Ich sah nach oben und suchte den Himmel ab. Er war düster und grauschwarz, am Horizont verfärbt er sich braun und rot, das Leuchten der nächtlichen Großstadt. Kaum ein Stern quälte sich durch Wolken, Nebel, Licht hindurch bis zu uns. Da fuhr ein Bulli. Das Blaulicht war an.

»Eilauftrag«, murmelte ich.

»Sicher 'ne Kneipenschlägerei«, sagte Judith.

»Na, wie fühlt ihr euch?« fragte Carmen und drehte sich wieder mal nach hinten um.

»Geht so«, sagte ich, »eigentlich ganz gut.« Ich dachte an Bullen, Knast, an langweilige Stunden in kalten oder überheizten Zellen, auf harten Bänken, wo die Zeit an den Gittern hängenbleibt, genau wie du selbst; oder an Bullen, die hinter dir rennen, die schreien; an Stacheldrahtzäune, an denen du hängenbleibst, Zweige, die dir das Gesicht zerkratzen; an Autos, die plötzlich neben einem anhalten und Bullen ausspucken, die Hand an der Knarre, vorn welche und hinten welche, an Piepen aus Funkgeräten »Sinus 28 nicht gehört ... Ende ... ja, einmal Personenmonopol bitte, wir haben hier ...«; Licht, das plötzlich irgendwo aufleuchtet, dich hilflos an einen Platz fesselt; an schnüffelnde Hunde, raschelndes Gebüsch, leise oder zu laute Schritte; an undefinierbare Geräusche, Panik, dunkle Gestalten, die näher kommen, es aber eigentlich nicht sollten, an feindliche Stimmen,' die dich zu irgend etwas auffordern, dir etwas befehlen, Beine breit, halt die Schnauze, schau mal was wir da haben, was wolltest du denn damit machen, wo wollten Sie denn hin, kann unter den gegebenen Umständen nicht zur Bewährung ausgesetzt werden, Aufstehen, Hofgang!

»Man kennt es ja«, sagte ich, » 'n bißchen Angst ist doch immer dabei. Aber es geht eigentlich.«

»Ist ja auch alles genau besprochen«, meinte Judith, »also, wenn alles einigermaßen hinhaut, dürfte eigentlich nichts passieren.«

»Ich glaub auch«, sagte Carmen und hielt an einer Ampel. Neben uns ein Ziviwagen.

»Schaunse rüber?« fragte Carmen.

»Ja klar, drei Leute um die Uhrzeit, und wie Kollegen sehen wir ja auch nicht gerade aus«, sagte ich.

»Immerhin sichern wir ihnen den Arbeitsplatz«, sagte Boris. Wir lachten die Zivis an. Sie lachten nicht zurück.

»Und außerdem wollen wir ja nur in die Kneipe«, sagte Carmen.

»Was denn, wir sind doch Nazis und wollen nach Heiligensee zum Truppenübungsplatz, bißchen Wehrsport üben«, sagte ich. Die Zivis bogen ab und verschwanden.

»Hast du die Funke?« fragte Carmen mich.

»Ja, alles da.«

»Ich fahr jetzt nicht extra noch mal dran vorbei«, sagte Carmen, »ich such lieber gleich 'nen Parkplatz. Wenn es überhaupt einen gibt.«

»Beim nächsten Mal sollten wir vielleicht vorher Halteverbotsschilder aufstellen«, bemerkte ich.

Kleine, dunkle Straßen mit Kopfsteinpflaster. Letzte Reste des alten Berlins, Überlebende des alten Wedding, dessen neues Gesicht tote Neubausiedlungen waren, keine Gropiusstädte oder Märkischen Viertel, niedriger, aber kaum weniger leblos. Viele Kneipen, eine sah aus wie die andere, genau wie die dunklen Gestalten, die von einer zur anderen unterwegs waren. Der Dunst hing dazwischen, verstärkte alle Geräusche, dämpfte die Aufmerksamkeit der anderen Sinne. Mein Enddarm meldete sich zu Wort und war sehr unzufrieden. Er kam zu spät. Das Angstgefühl legte sich langsam wieder etwas, jetzt, wo es wirklich bald losging. Der Verkehr sah wieder normal aus, die Menschen wurden zu gewöhnlichen Menschen, die Hubschrauber waren verschwunden. Der Bauch hatte gelogen. Nun bogen wir in die letzte Straße ein.

»Wir müssen nachher drauf achten, nicht alle auf einmal aus dem Eingang rauszukommen«, sagte Carmen. Da war er, ein Stück weiter vorn, ein x-beliebiger Hauseingang bei Nacht, heruntergekommener Altbau, das Holz der Türen rissig und modrig, das Schloß rostig. Die Fassade bröckelte auch schon ein wenig. Der Bürgersteig vor dem Haus paßte sich an, uneben, alt, voller Laub und Hundekacke. Davor alte Gaslaternen. Es sah nach nichts aus.

»Ich geh zuerst los«, sagte ich, »ich muß ja noch den günstigsten Platz finden da oben. Und wenn vorn zu ist, muß ich außen rum und es von hinten noch mal probieren. 'Ne Viertelstunde wird's auf jeden Fall dauern.«

»Du meldest dich, wenn du bereit bist, o.k.?«

Da war er, der einzige Parkplatz.

»Die anderen werden's schwerer haben, was zu finden«, murmelte Judith.

»Werden sie schon schaffen«, sagte ich. Jetzt war der letzte Moment, einen Rückzieher zu machen. Unsinn, es war weder der letzte noch der erste Moment. Aufhören war nie ein Problem. Kein Gedanke daran, es gab keinen Anlaß. Der Magen immer noch etwas flau, aber nicht mehr so wichtigtuerisch. Alles da? Handschuhe, Funkgerät, Schraubenzieher, Dietrich für den Notfall, eigentlich mußten ja alle Türen offen sein, Taschenlampe ...

»Na, dann geh ich mal«, sagte ich. Drei schnelle Küsse, »wird schon alles gutgehen. Bis nachher. Viel Glück.«

Nun also die Straße überqueren. Ich habe nichts vor. Komme aus der Kneipe. Ganz normal. Warum ich keine Fahne habe? Nun, äh ... Antialkoholiker? Um diese Zeit? Das nächste Mal sollte ich schnell was trinken vorher, oder einen Flachmann mitnehmen zumindest. Trinken macht unvorsichtig und laut und langsam. Lassen wir das. Besser einfach nur ganz normal wirken. Tja, ich gehe hier eben so spazieren. Frahng Se mich nich, wieso. Wieso denn? Sie wohnen doch in Kreuzberg, steht hier im Ausweis? Naja, wissense ... wat jeht Sie det eintlich an? Nu werd hier mal nich komisch! Auch nicht so gut. Ganz normal aussehen. Für wen? Kein Mensch, keine Autos. Dahinten, ganz hinten, ist jemand. Mit Hund. Hündchen geht Gassi. Fernsehprogramm ist zu Ende. Nur noch hier und da Licht in Wohnungen. Ja, morgen muß wieder geschafft werden. Wir schaffen jetzt. Jetzt gleich.

Nachtschicht. Während ihr schlaft, den Schlaf der Gerechten. Ein Auto fährt vorbei. Ziemlich schnell, eine Taxe. Bullen sollten hier jetzt nicht vorbeifahren, weil sie es auch sonst nicht tun um die Zeit. Ich sehe ganz normal aus. Nur eben dunkel gekleidet wie der schwarze Mann persönlich. Was vielleicht nachher noch ganz nützlich sein kann. Der verdammte Smog, er nervt, es stinkt, man kriegt das trockene kalte Husten. Nachts kann man die Fenster nicht mehr aufmachen. Überall der Smog. Jetzt schaffte ich es fast, ihn zu vergessen. Und warum auch nicht, der Dunst ist ja ganz nützlich, jedenfalls für uns auf Nachtschicht. Andererseits, die Geräusche, alles hört sich lauter an. Am besten, sich jetzt schon drauf einzustellen. Was du nachts hörst, ist sowieso immer weiter weg, als du glaubst. Erst recht bei Dunkelheit und Smog. Die Schritte in fuffzig Meter Entfernung klingen, als würde dich gleich jemand anrempeln. Und da ist jetzt endlich die Tür, meine Tür. Das Haus ist völlig dunkel, wie es sich gehört, die Hälfte der Wohnungen steht ja auch leer. Die Tür ist offen, wie immer. Ein kurzer Blick nach links, über die Straße, zu dem unscheinbaren Neubau, einem Bürogebäude; unten drin eine Bank, die Jalousien sind heute geschlossen. Das ist jetzt fast jeden Tag anders. Sie sind etwas lax geworden, seit es in letzter Zeit ruhiger in der Stadt geworden ist. Das Objekt unserer Begierde.

Die Häuser daneben sind dunkel, bis auf ein oder zwei Fenster. Nichts Verdächtiges. Himmlische Ruhe. Jetzt ist sie noch angenehm, aber wenn die anderen bald mit der Arbeit beginnen, werden sie die Ruhe verfluchen. Etwas mehr Grundrauschen könnte nicht schaden. Und jetzt hinein.

Licht machte ich im Treppenhaus nicht an. Wäre natürlich unangenehm gewesen, wenn jetzt jemand entgegengekommen wäre. Aber um diese Zeit? Nee, da hatte niemand zu kommen. Ich stieg langsam die ersten Stufen empor. Das Geländer knarrte schon beim flüchtigen Berühren. Ich hielt mich eng an der Wand. Die Stufen knarrten atemberaubend laut. Längst mußten alle Leute senkrecht in ihren Betten stehen, oder bereits mit dem Ohr an der Tür oder dem Auge am Spion. Scheiße, was für ein Lärm! Ich schob mich immer langsamer und vorsichtiger voran, aber immer wieder meldeten die Stufen Protest an. Vier Stockwerke! Jetzt fehlte nur noch ein Hund, der irgendwo loslegte. Knarrende Stufen, knarrende Absätze, knarrendes Geländer. Dunkelheit. Draußen auf dem Innenhof war alles ruhig. Eine einsame Glühbirne über dem Eingang zum Hinterhaus leuchtete matt vor sich hin. Der Rauch aus den Schornsteinen sank zum Boden herab.

Hier war die erste Wohnung. Ich blieb einen Moment neben der offenen Tür stehen, in die leeren Räume hineinhorchend, atmend. Ich wollte aber noch höher, um einen noch besseren Überblick zu bekommen. Hier hauste offenbar niemand. Und weiter ging es, nach oben. Die knarrende Treppe. Je höher ich kam, desto mehr spannte ich mich. Hatte man oben bessere Ohren? Eine Stufe übersehen, ein lauter Tritt, Stille. Den Atem anhalten. Aber nichts regte sich, alles blieb still. Also weiter. Das war nun schon der dritte Stock, hier stand die rechte Wohnung leer, gegenüber eine Wohngemeinschaft. Schlaft schön, träumt süß, habt keinen Köter. Schon war ich vorbei, ihr Lieben, ich tu euch ja nichts. An der Tür Aufkleber gegen dieses und jenes. Jaja, das macht auch mich irgendwie echt betroffen ... Und nun, hurra, der vierte Stock.

Wieder lag die leere Wohnung rechts. Die Tür war provisorisch zugenagelt. Mist, die ganzen Tage hatte sich niemand drum gekümmert, da war sie offen gewesen. Gegenüber wohnten Türken. Na, die kümmerten sich ja hoffentlieh um nichts, in ihrer Bescheidenheit. Sind froh, wenn sie selbst in Ruhe gelassen werden, in diesem unseren gastfreundlichen Land. Man kann sich aber auch täuschen; mit etwas Mühe können sie sich wie gute deutsche Bürger benehmen. Kein Spion an der Tür. Alles ruhig. Am besten mache ich die Tür kurz und schmerzlos auf, dachte ich mir, aber dann versuchte ich es doch lieber langsam und lautlos. Mit dem Schraubenzieher in die Ritzen, drücken, stemmen, langsam, knirschend ... Es klang nicht so laut wie befürchtet, und es waren nur zwei Nägel. Zack, das war der erste. Ruhe, und abwarten, nichts verdächtiges zu hören. Mir war reichlich warm geworden. Und nun der untere Nagel. Er saß ziemlich locker und fiel klirrend auf den Boden. Keine Bewegung.

War da was?

Was machen Sie da? Ich suche nach Kacheln für meinen Ofen.

Ich rufe Polizei? Hau ab?

Nein, keine Schritte, es blieb ruhig, und die rotte Tür ließ sich öffnen. Ein paar Schritte, und ich war drin, und nichts hatte sich verändert. Wie in den letzten Tagen, eine leere Wohnung, ein zerschlagener Kachelofen, eine kaputte Kü-chenmaschine, oller Teppichboden, alte Fernsehzeitschriften, Gerümpel in ein paar Ecken. Die Tür ging nicht mehr ganz zu, aber ich brauchte sowieso kein Licht. Da vorn war das große Zimmer zur Straße, meine Beobachtungsstation. Es gab keinen Stuhl. Man kann nicht alles haben.

Da unter mir war die Straße, schräg gegenüber das Bürohaus. Alles dunkel, auch die Nachbarhäuser, ausnahmelos. Das Bürohaus war niedriger als die benachbarten Wohnhäuser. Links daneben eine Lücke, da war die Einfahrt zu der Garage, die hinter dem Haus lag. Die Fensterfront war hell angestrahlt von einer Straßenlaterne. Irgendwo hinter dem Haus mußten jetzt die anderen rumspringen. Mein Magen zog sich noch mal zusammen und schickte ein Kribbeln durch den Körper, eine unangenehme Empfindlichkeit der Haut und der Nerven überhaupt. Mein Herz schlug wieder langsamer. Ein Auto fuhr langsam von rechts vorbei. Keine Zivis, ein fetter Daimler, Dealer vielleicht oder Zuhälter oder weiß-der-Teufel. Ich war um jedes Auto und jeden Menschen froh, die eindeutig keine Bullen waren.

Die anderen waren jetzt durch den Hauseingang um die nächste Straßenecke, wo wir geparkt hatten, hindurch, hatten ein paar Maschendrahtzäune überwunden und schlichen irgendwo hinter der Garage herum. Carmen mußte ihre Position jetzt eigentlich schon eingenommen haben, etwas weiter zurück, als Sicherung. Ich holte das Funkgerät aus der Tasche, zog die Antenne raus und steckte mir den Kopfhörer ins Ohr. Eine nützliche Sache: Kaum etwas ist nachts so weit zu hören wie ein quäkendes Funkgerät. Metallisch, scharf, unmenschlich zerschneidet es Dunkelheit und Stille und verrät seine Benutzer.

Die Handschuhe hatte ich schon im Treppenhaus übergezogen, schon wegen der Kälte. Hier drin, in dem fast unbeheizten Haus, war es nicht gerade viel wärmer als auf der Straße. Klamme Finger, klamme Füße. Bloß nichts an den Nieren holen, wenn ich jetzt hier endlos lange herumstehe. Mein Job ist immer noch bei weitem der coolste. Wenn jemand heil davonkommt, dann ich. Hier kann ich tagelang sitzen notfalls. Unten fuhr der Wachschutz vorbei. War das vor ein paar Tagen auch um die Zeit? Unser Objekt wird von der anderen Firma betreut, nicht von der rot-weißen, sondern von den blau-silbernen Wagen, wie heißen die jetzt gleich? Deutscher Schutz- und Wachdienst.~ Wie auch immer, einen Dreckslohn zahlen sie alle, für heruntergekommene Bullen oder Leute, die es nicht einmal so weit gebracht haben, und für Studenten, die jeden Job annehmen ... ein paar Mark die Stunde, um Sheriff zu spielen. Was für ein armseliger Mist. Nächte sich um die Ohren hauen, um Geldsäcke und Drecksäcke zu bewachen. Ein trauriges Kapitel.

Ich schaltete das Funkgerät ein und regelte die Rauschunterdrückung.

»Hallo Eunuch, bitte melden«, sagte ich leise.

»Hier Eunuch. Verstehe gut. Alpha.«

Jetzt also ging es - wieder einmal - wirklich los. Jetzt mußten die anderen den Weg in das Gebäude klarmachen. Das hieß, auf den hinteren Metallzaun zu steigen, der das Grundstück begrenzte, und von dort aus das eine Fenster zu erreichen, das aussah, als ließe es sich von außen öffnen. Es schloß nicht ganz dicht und bot so die Möglichkeit, an den Riegel zu kommen. Hoffentlich. Mit einer dünnen Metallzunge mußte es gehen, hatten wir uns überlegt. Dann sollte Judith draußen bleiben und die drei übrigen das Material reinschaffen, Boris, Silvio und Isa, so hatte es sich mehr zufällig ergeben ... Und alles in ein paar Metern Entfernung von den rückwärtigen Fenstern des Wohnhauses daneben. Wir wußten zwar, daß da zuerst einmal nur eine Küche kam, und die Wohnung im Hochparterre war auch meistens dunkel, es schien selten jemand zu Hause zu sein. Aber sicher waren wir uns nicht, außer Silvio, der sich sowieso immer sehr schnell einer Sache sicher war.

Für mich hieß es jetzt warten, die Häuserfront beobachten, warnen, wenn Verdächtiges geschah. Stille und Starre. Müdigkeit wohl kaum, dazu war es zu kalt und ich zu aufgeregt. Meine Hände schwitzten etwas, obwohl sie kalt waren; das Gefühl im Bauch hatte sich jetzt, da alles ins Rollen gekommen war, wieder verzogen. Es lauerte in einer Ecke auf unvorhergesehene Situationen. Geräusche im Treppenhaus ließen mich zusammenzucken, obwohl es offensichtlich nur das Knacken des Holzes wegen der Kälte war. Es hätte ja auch etwas anderes sein können. Jemand, der da herumschlich. Ein Einbrecher. Ein Schlafwandler. Ein Bulle. Viele Bullen. Viele Bullen, die kamen, um mich zu holen, mich ganz allein, mit hellen Lampen, die mich blendeten, mit Lautsprechern und krächzenden Funkgeräten, mit Knarren und MPs ...

Ich lehnte also an der Wand und wartete. Es geschah nichts. Ein schlanker Mann lief da unten auf der gegenüberliegenden Straßenseite entlang. Konnte ein Zivi sein, jedenfalls war er jung, aber nicht zu jung, und sportlich gekleidet, soweit das zu erkennen war. Jetzt blieb er stehen und sah sich um. Ich nahm die Funke hoch und wollte die Ruftaste drücken, als der Mann etwas rief und gleich darauf ein Hund aus einem Hauseingang geflitzt kam. Der Mann schwenkte drohend die Leine und ging langsam weiter. Der Hund war eine Promenadenmischung. Er kackte genau vor der Bank auf den Gehsteig und blickte dabei aus schuldbewußten Augen gen Himmel. Der Mann beachtete ihn nicht weiter, und sie verschwanden aus meinem Gesichtsfeld.

Aus der Funke erklang ein gedämpftes »Beta«. Auf der Straße war nichts Ungewöhnliches zu bemerken. Kurz darauf fuhr sehr langsam ein dunkler VW-Golf vorbei, der drei Kilometer weit nach Bullen roch. Er rollte in gleichbleibendem Tempo an der Bank vorbei. »Beta«, sagte ich leise.

Die Zivis waren weg, und eine Weile geschah überhaupt nichts. Ich überlegte, ob ich das Fenster öffnen sollte, um besser zu hören, was unten geschah. Dann machte ich vorsichtig das andere Fenster des Raumes auf. Die Smogwolke drang in die leere Wohnung ein mit ihrem kalten Gifthauch. Kein Mond am Himmel. Hatten wir Neumond? Man sollte mehr darauf achten beim nächsten Mal, ein knalliger Vollmond konnte gefährlich werden.

Ich dachte an Isa, wie sie jetzt mit den anderen am Zaun stand, Kanister hochstemmte und hinterherkletterte. Ich stellte sie mir ohne Maske vor; ich konnte diese schwarzen Dinger nicht leiden, sie machten die Menschen fremd und bedrohlich. Was war das nur für ein Leben, in dem wir unsere Gesichter nicht zeigen konnten, gerade dann, wenn wir das taten, was ein wichtiger Bestandteil unserer Identität war?

Natürlich wog die Romantik des abenteuerlichen Aufstandes weniger als Kameras und Phantombilder. Lieber Isas Gesicht hinter der Maske, aber in Freiheit, als Isas Gesicht im Knast und in Foto-Karteien.

Warum eigentlich Isa mit Maske und Kanister, dachte ich, warum nicht neben mir im Gras am Landwehrkanal liegend, oder mit mir am Meer in Spanien, oder ...? War das wichtig? Es war wichtig. Es bedeutete ein neues, ungekanntes Vertrauen, eine Verbindung jenseits dessen, was ich früher unter Liebe verstanden hatte. Es überdauerte Trennungen, Zeit und Raum, auch wenn es von anderen Erfahrungen verschüttet wurde, so hoffte ich zumindest. Wer neben mir gestanden hatte, vor dem Wasserwerfer, vor der Schaufensterscheibe, auf verlassenen Parkplätzen, in dunklen Ecken, blieb in mir, auch nach vielen Jahren der Trennung.

Manchmal glaubte ich, daß dies nur ein Trugbild sei, daß wir lediglich der verlorenen Nestwärme der Familie nachhingen. Waren wir denn wirklich anders als die anderen? Wir suchten doch das Andere, das Neue, das uns aus all der Verzweiflung und Kapitulation der umzingelnden Realität heraushalf, uns dem Normalen entfremdete. Wir waren nicht alt, wir waren nicht weise, aber wir wollten lernen und glaubten, schon sehr viel zu wissen. Eines wußten wir bestimmt: Wenn wir uns liebten, dann auch, weil wir das Andere, Neue im Gegenüber fanden.

Dabei mischten sich Träume und Wirklichkeit. Aber das wollte ich ja gerade. Wenn es überhaupt eine Chance gab für die wahre Liebe, dann dort, wo um Befreiung gekämpft wurde, wo Träume und Wirklichkeit untrennbar verschmolzen, wo Menschen sich erforschten, etwas Neues wollten, einen neuen Menschen schaffen wollten. Der erste Schritt bestand darin, es zu versuchen. Niemand durfte erwarten, fertig zu werden mit dem endlosen Abschütteln von Lügen, Schminke, Pathos und Angst. Es genügte das Wollen, dieses Widerstreben gegen die Realität der Herrschenden und ihr sogenanntes Glück. Dieses Wollen, ob es praktische Folgen hatte oder nicht, war für mich so wichtig, daß Liebe ohne es nicht vorstellbar war.

Da wir verkündeten, bei uns geschehe etwas ganz Anderes und Neues, wurde natürlich um so genauer nach Schwächen und Makeln gesucht, von Feinden wie von Freunden. Wer beansprucht, etwas besser zu machen, wird an den eigenen Idealen gemessen, nicht an den allgemeinen schlechten Zuständen. Ich fand, daß wir bei allen Schwierigkeiten keine schlechte Figur machten. Natürlich waren wir nicht die »neuen Menschen«, doch mir schien, einiges an uns sei ermutigend und könne ohne die ständigen Deformationen durch die herrschende Realität noch besser aussehen.

Mir mischten sich dabei romantische Jugendträume in die Gedanken. Wäre nicht Isa der richtige Mensch, einen entscheidenden Schritt nach vorn zu tun? Mit meinen altklugen Überlegungen konnte ich sie wohl kaum für mich gewinnen. Sie schrumpften zurück auf eine gewöhnliche unglückliche Verliebtheit. Ich träumte von Isa, wie sie mit den anderen am Zaun stand, emporkletterte, schöner wurde durch das, was sie da tat. Hinterher würde sie mit breitem Grinsen mir gegenüber in der Kneipe sitzen, wenn wir über die Aktion sprachen. Etwas Lächeln, Nähe, Berührungen, um die Träume zu nähren, um den klugen Überlegungen

Wärme zu geben. Auch ohne Isa blieben die Träume. Einmal würden sie Gestalt annehmen, irgendwann, und weniger wollte ich nicht. Es kam nicht in Frage, Kompromisse zu schließen. Kompromisse schließen, cfas war die feindliche Realität, das war der Sachzwang, das drückte mir Tag für Tag den Stempel ins Gesicht. Wenn ich so vieles anders haben wollte, dann erst recht dieses. Was ich haben will, das krieg ich nicht, und was ich kriegen kann, das gefällt mir nicht, das waren wieder mal die »Fehlfarben«, die die meisten meiner Gefühle auf eine Platte gebannt hatten.

Jetzt hörte ich ein Geräusch im Treppenhaus. Jemand war unten ins Haus gekommen und stieg die Treppe hoch. Erster Absatz. Zweiter Absatz. Ich spürte meinen Herzschlag. Dann ein klirrender Schlüsselbund, der umständlich ausgepackt wurde. Das Geräusch der Schlüssel beruhigte mich, die Aufregung war vorbei, noch waren sie nicht unterwegs, um mich abzuholen. Die Tür fiel knallend ins Schloß. Ich richtete meine Aufmerksamkeit wieder nach draußen. Mir fiel ein, daß ich bisher keine Entwarnung gehört hatte. Die Häuser waren dunkel. Nichts hatte sich verändert. Die Laternen standen immer noch an denselben Stellen wie zuvor und verbreiteten ihr störendes Licht. Die Bäume auf dem unbebauten Eckgrundstück zur Rechten standen schwarz und schweigend.

Ich hatte meine eigene Entwarnung vergessen. Die anderen warteten bestimmt seit zehn Minuten darauf.

»Omega von Kalif«, sagte ich leise, »und sonst?«

»Eunuch hat verstanden«, kam die Antwort, »also Omega.« Hatte ich die andere Warnung vorhin geträumt? Oder hatte ich die Entwarnung verpennt? Leider konnte ich schlecht nachfragen. Das mußte nachher besprochen werden. Genau wie meine Schlampigkeit. Ich versuchte zu hören, was draußen vorging. Von den anderen war nichts zu hören. Wieso hatte ich eigentlich keine Uhr dabei? Die Uhr an der Straßenecke weiter hinten war nicht zu sehen von hier aus, ich konnte mich ja schlecht aus dem Fenster lehnen. Jetzt sollten sie eigentlich drinnen sein. Sie mußten es doch langsam geschafft haben. Das war das schwierigste Stück, und die Probe, ob es eine Alarmanlage gab. Zu sehen gewesen war nichts Derartiges, auch von innen nicht, aber das war ja keine hundertprozentige Sicherheit; stiller Alarm war ja auch möglich. Die Minuten unmittelbar nach dem Öffnen des Fensters und dem Einsteigen waren die spannendsten.

War da gerade jemand am Fenster des Versicherungsbüros über der Bank? Nein, es war ein Lichtreflex der Straßenlaterne. Oder doch nicht? Keine Bewegung. Wie lange kann ein Mensch bewegungslos stehen? Eine ganze Weile vermutlich. Jetzt ging in dem Wohnhaus rechts neben unserem Objekt Licht an, unten, im Eingang. Hatte ich da jemanden übersehen, der ankam? Verdammte Scheiße. Aber nach kurzer Zeit kam ein Mann aus der Tür und verschwand nach rechts, um die Ecke. Gleich darauf hörte ich ein Auto starten und wegfahren. Es herrschte wieder Ruhe. Noch eine Nachtschicht, dachte ich.

Wie schnell verging nun eigentlich diese Zeit, normal oder anormal? Langsam oder im Fluge, egal. Ein LKW bretterte mit atemberaubenden Tempo vorüber. Harry W. Hammacher. Hurtig, hurtig, Harry. Schnell, schnell, Isabel. Der Ladeaufbau von Ackermann-Frühauf, ein Name wie ein Tritt in den Bauch am Morgen. Von weit entfernt erklang das Martinshorn der Feuerwehr. Ja, Jungs, bald habt ihr hier zu tun. Wegen mir braucht ihr gar nicht zu kommen. Kann ruhig alles niederbrennen bis auf die Grundmauern. Ist nicht schade drum. Weder um die BHI mit ihrem Scheißkapital für Südafrika und Gott weiß wen noch alles, noch um das Versicherungsbüro darüber, das den Leuten das Geld stiehlt, noch um den Software-Konzern (BCS oder SPB oder wie er noch gleich hieß) ganz oben mit seinen Steuerungsprogrammen für Atomkraftwerke. Kann alles zum Teufel gehen. Wofür haben die Wohnhäuser daneben ihre kahlen Brandwände? Das muß doch ausgenutzt werden. Wir hätten es uns ja einfacher machen können, einen Molli durch die Scheibe und Schluß, aber das war uns zu unsicher, und außerdem fanden sich ja vielleicht interessante Papiere in dem Computerbüro. Außerdem wollten wir Lärm vermeiden, und klirrende Scheiben sind in solch einer Nacht weit zu hören.

Jetz schlichen Silvio, Boris und Isa da drin herum und versuchten, in der Dunkelheit das Spannende vom Belanglosen zu trennen. Oder vielleicht hockten sie immer noch wie Hühner auf dem Zaun und zerrten das Material hoch, Benzinkanister, Zünder ... Oder sie versuchten sich immer noch an dem hartnäckigen Fenster, schwankten auf dem Zaun hin und her und kämpften um ihr Gleichgewicht.

»Beta« tönte es wieder aus dem Kopfhörer. Auf der Straße hatte sich nichts verändert. Die Ruhe war erdrückend. Sie rief Ohrensausen hervor.

Die Tatenlosikeit machte mich nervös. Ich stand nur da, und es geschah einfach nichts. Ein Zimmer, in dem das Licht an- und wieder ausging. Ein Mann, der an eine Wand pißte. Ein Auto, das fuhr. Eine Wolke, die zog. Eine Tür, die zu war. Es wurde kälter, keine Wärme in Sicht. Die Kälte schnitt ins Gesicht, auch ohne Wind. Der Smog hatte sich weitgehend aus dem sichtbaren Bereich verzogen, doch zu riechen war er immer noch. Die Menschen in ihren Häusern heizten, was das Zeug hielt, auch während sie schliefen. Ich sah sie förmlich alle paar Minuten zum Ofen taumeln, um Briketts nachzuschmeißen.

Wieder mal ein Bulli. Der VW-Bus kroch die Straße entlang. Das Blaulicht saß keck wie ein zu kleines Mützchen auf dem Dach. Auch dieser Kelch ging vorüber.

Ein besänftigendes »Omega« erklang. Wie weit waren sie jetzt drüber, zum Teufel? Meine Ungeduld ärgerte mich. Man müßte lernen, alles etwas gelassener zu sehen. Die Zeit hat viel zuviel Macht über uns. Was wäre der Knast ohne die Zeit? Wen kümmert's schon, ob ich hier eine Stunde lang oder fünfe sitze? Es ändert nichts.

Wieder glaubte ich, eine Bewegung im Büro gegenüber gesehen zu haben. Wenn wir uns wenigstens über die Funkgeräte hätten unterhalten können. Aber wir mußten davon ausgehen, daß der Privatfunk abgehört wurde, von Post oder Bullen oder CIA oder NSA oder sonstwem, wahrscheinlich von allen, und daß es möglich ist, auch schwache Sender zu orten. Außerdem sind Stimmabdrücke identifizierbar. Also möglichst wenig sprechen. Zumal es ja da auch noch die ganzen anderen CB-Funker gab, die einem dazwischenfuhren, wenn auf ihren Frequenzen gequatscht wurde. Da war doch bestimmt grad jemand am Fenster gewesen. Ich hätte es schwören mögen. Aber jetzt war wieder nichts zu sehen. Zu weit weg, um sicher sein zu können. Es war zu hell, um völlig ungesehen bleiben zu können, aber nicht hell genug, um Genaues erkennen zu können. So war das immer in der Stadt. Es gab zu viele Lampen in Deutschland. Mir fiel eine Forderung aus der Anschlags-Erklärung einer militanten Gruppe ein: Beleuchtung der gesamten BRD einschließlich Westberlins nicht unter sechzig Watt! Ob der BKA-Sachbearbeiter wohl wirklich von so etwas träumte?

Jetzt müßten sie doch endlich fertig sein. Meine Gedanken drehten sich im Kreise.

Die Funke knarzte. »He, Kalif, Delta, verstanden?«

»Verstanden, Ende.«

Die Zeit lief wieder, es gab keine Langeweile, keine Ungeduld mehr. Und es war so gut wie gelaufen. Kein Grund, auf den letzten Metern leichtsinnig zu werden. Es gab ja eigentlich nie einen Grund, leichtsinnig zu werden. Aber was sollte jetzt noch schiefgehen? Ich blieb noch eine Weile stehen. Der Zeitzünder sollte auf eine Dreiviertelstunde eingestellt sein. Ich konnte also in Ruhe abwarten, bis die anderen ein Stück weg von dem Gebäude waren, ehe ich mich auf den Weg machte. Fünf Minuten, ohne jedes Ereignis.

Wie laut die Treppe war! Nach der endlosen Stille, die hinter mir lag, kam es mir vor wie ein ganzes Orchester. Da konnte kein Auge geschlossen bleiben. Ich nahm immer zwei Stufen auf einmal, es ging schneller als beim Hinweg, schon war ich unten. Nirgends war ein Alarm zu hören. Für die Bullen konnte die Nacht gar nicht anders aussehen als sonst, ruhig und friedlich. Vor mir tauchten Visionen auf von lodernden Flammen, verbogenen Stahlträgern, geschwärzten Wänden, geschmolzenem Plastik, Blaulicht über rot leuchtenden Fahrzeugen, beißendem Qualm.

Die Tür war offen, unverändert, die Straße lag still und leer vor mir. Jetzt kam die letzte Hürde. Ganz normal und unbeteiligt. Ja, in tiefer Nacht allein auf der Straße. Was wollen Sie? Ich weiß von nichts. Ich weiß nicht, was hier in einer halben Stunde losgeht. Da müssen Sie mich verwechseln. Nur die Ruhe.

Zivis fuhren vorbei. Zu Fuß wären sie schneller gewesen. Sie glotzten mich an wie Freier Huren auf dem Strich, mit großen, fragenden Augen. Ob einer wie ich hier laufen durfte? Um diese Zeit, in dem Alter, in dieser Richtung? Offenbar durfte ich; sie fuhren langsam weiter. Und wurden noch langsamer. Ich steckte die Hände in die Hosentaschen und nahm sie wieder heraus. Versuchte, wie ein gewöhnlicher, übermüdeter oder sonstwie fertiger Mensch dahinzutrotten. Wünschte mir Augen im Hinterkopf, ich brauchte sie so nötig! Ich spürte die Bullen hinter mir wie Feuer, das mir den Rücken versengte. Ihre mißtrauischen Blicke. Wohin mit dem Funkgerät? Sie wendeten. Ich ging ganz normal angespannt weiter. Verdammt, diese Funke. Hätte ich die nicht dabei. Und das bißchen Werkzeug. Würden mich für einen Einbrecher oder Autoknacker halten. Zu jung, um nachts auf die Straße zu gehen, ohne etwas Kriminelles im Sinn zu haben. Unter dreißig sind alle Menschen ab acht Uhr abends latent kriminell. Ab zwölf Uhr sind sie nur kriminell, etwas anderes ist undenkbar. Und unter fünfundzwanzig sind sie es auch tagsüber und sowieso, voller schädlicher Neigungen und krimineller Energien, wie der Jugendrichter sagt. Wenn sie mich anhalten, bin ich erledigt. Ich bin doch aber vollkommen harmlos, habe noch niemals auch nur einer Fliege etwas zuleide getan, das Zeug hier habe ich nur zufällig mit, also ein Freund von mir, nein, ich bin ganz allein, ich meine nur, ja, ich wohne in Kreuzberg, jedes Wort ist sinnlos. Sie kamen hinter mir her, langsam, lauernd. Nur nicht losrennen. Normal weitergehen. Ich bin harmlos. Harmlos! Ich tue nichts, habe nichts getan, werde nichts tun. Bin sozusagen völlig überflüssig, ein unbeschriebenes Blatt. Wenn sie wüßten! Und wenn sie wissen? Nein, Quatsch, ganz ruhig jetzt, wenn sie mich haben, haben sie mich eben, nur ruhig bleiben. Fahrt weiter, Mensch, fahrt weiter. Nicht stehenbleiben. Ihr Scheißer. Weiterfahren sollt ihr! Los, laßt mich in Frieden. Ich will nicht in den Knast. Verdammte Angst. Wovor muß ich Angst haben? Kein Grund vorhanden. Schweiß, verschwinde, Herz, schlag langsam! Bauch, bleib ganz ruhig, entkrampfe dich, bitte! Hirn, leere dich von allem Ballast. Laß sie nicht anhalten. Laß sie einfach nur weiterfahren.

Sie fuhren weiter. Beäugten mich mit kritischen und feindseligen Mienen. Dann gaben sie Gas und waren weg. Die Flut zog sich aus meinem Körper zurück. Da war das Auto, die anderen warteten schon, ich war der letzte.

»Hat ja gedauert«, sagte Judith.

»Da waren grad die Zivis, ich dachte schon, sie wollen mich«, sagte ich und atmete die Anspannung aus, »und, wie war's?«

»Nicht schlecht«, sagte Boris lächelnd, »wir haben nix mitgenommen, aber egal. Bald geht's ab dahinten, aber nicht zu knapp.«

»Noch 'ne halbe Stunde«, frohlockte Judith. Wir küßten uns zur Besiegelung. Der Wedding lag hinter uns, vor uns die Freude.

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