August 1989


Wenn ich Anna hinter der Scheibe sah, überkam mich die absurde Idee, mit den Fäusten gegen das Glas zu trommeln, wie es im Film bestimmt geschehen wäre. Wenn ich sie da vor mir sah, wußte ich, es hatte nie irgendwelche Schwierigkeiten gegeben zwischen uns, keine Eifersucht, keine Verunsicherungen, keine Verlustängste, sondern nur das reinste Paradies. Nächte und Sonnenaufgänge unter freiem Himmel, auf einem grasbewachsenen Hausdach, auf freiem Feld, der Horizont ganz weit. Nebeneinander aufwachen in einem engen Zelt, mit matschigem Kopf, weil die Sonne schon seit zwei Stunden voll draufknallte, und draußen brachten die anderen schon Weißbrot und zerflossene Butter und Pfirsiche zum Frühstück; am Kotti auf den Treppenstufen nebeneinander sitzen und Eis essen, während am Überbau über die Adalbertstraße ein Transparent mit unverständlichem Inhalt befestigt wurde und diverse Angehörige aus dem unteren Teil der berühmten Zweidrittelgesellschaft vorbeidefilierten; nebeneinander im Hoftheater beirp Kabarett »Zwei Drittel« sitzen und über »die Autonomen« und andere lachen; nebeneinander im Kino sitzen und »Brazil« ansehen und das Ende immer noch nicht fassen können, zum wievielten Mal schon ...

Anna hatte genug von diesen Besuchen, sie wollte die Trennscheibe nicht mehr. Wir überlegten ernsthaft, daß sie in nächster Zeit nicht kommen sollte. Ich mußte ein bißchen schlucken und darüber nachdenken, wie wichtig diese kurzen Blicke durch den Panzer für mich eigentlich waren. Ich dachte mir, daß ich es erst wissen würde, wenn sie ausblieben. Ich dachte, daß ich vielleicht doch ein Foto von Anna wollte, und von einigen anderen auch; bisher hatte ich mich immer dagegen gesträubt, weil es doch auch so gehen mußte, ohne Krücken. Obwohl mir ja schon klar war, daß es eben nicht einfach so ging, die Gesichter bei sich zu behalten. Und was hatten die Leute früher im Kerker gemacht, als es keine Bilder gab?

Wir redeten miteinander, dieses und jenes, was alles erledigt werden mußte, technischer Kram, und ich tankte währenddessen. Nebeneinander im Bett liegen und sich von früher erzählen, von Eltern und Träumen und Schwierigkeiten, die schon lange nicht mehr schwierig waren, die vielleicht schon amüsant waren, und weiter weg ballerten in der Glotze irgendwelche Clowns mit Hut aufeinander; nebeneinander auf einer Fete sitzen, ein wenig geknechtet vom Satan Alkohol, und sich lustig machen über Aufgetakelte und Wichtigtuerische und Unscheinbare und Tanzende und Freunde und den DJ; nebeneinander im Tränengasnebel stehen, zum Beispiel an einem 1.Mai in Kreuzberg, wenn die Schlange vor dem Bratwurststand zu lang ist und es sich deswegen anbietet, erst einmal die Straßen noch etwas zu verbarrikadieren und den einen oder anderen Stein auf die Bullen loszuwerden ...

Oder auch nebeneinander im Gras liegen und Pläne aushecken, wie ein Schloß zu knacken ist und ob auch wirklich keine Menschen gefährdet sind durch die Aktion. Diese letzte Erinnerung machte mich unsicher, denn ich fühlte mich so, als müßten meine Gedanken mir offen ins Gesicht geschrieben stehen. Aber kein hämisches Lachen aus dem Hintergrund erklang, kein Staatsschützer ließ Elefantenohren in den Raum wachsen, und vor mir sah ich Anna, die vom Wäschetausch und ähnlichem redete. Ich driftete ab in Tagträume, in einen Halbschlaf, ähnlich der Müdigkeit beim Autofahren, die dich trotz angestrengt offengehaltener Augen immer weiter fort vom Denken und immer tiefer ins Träumen zieht, bis du erschrocken erwachst und plötzlich nicht mehr weißt, ab deine Augen denn wirklich noch offen waren.

Danach, in der Zelle, spann ich den Gedanken weiter aus, plante großartige Aktionen, wahre Meisterwerke, würdig eines Phantomas, mit perfekten Verkleidungen, narrensicheren Fluchtwegen, bahnbrechenden Wirkungen. Das ICC und der Mercedes-Stern vom Europa-Center, der Deutsche-Reichs-Adler von Siemens und das Polizeipräsidium am Tempelhofer Damm, die Yankee-Kasernen und das Produktionstechnische Zentrum am Spreebogen lösten sich in schieres Nichts auf, zerfielen und mit ihnen das Ansehen West-Berlins als kapitalistisches Reklameschild für die willigen Schüler im Osten, als High-Tech-Zentrum in Sachen Produktion und Automation und Horchposten der Nato ... Und wenn wir erst aus dem Knast kommen würden, in etlichen Jahren, würde es sicher massenhaft neue reizvolle Objekte geben, um die wir uns kümmern konnten. Da war noch einiges zu tun, zumal es ja außerhalb des Knastes im Moment nicht gerade so aussah, als stünde die Revolte vor der Tür, geschweige denn die große Revolution. Das würde sich aber ändern, wenn ich erst wieder frei war. Im Knast staute sich genug Energie auf, die mußte nur konserviert werden.

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