August 1989


Wenn ich an Silvio dachte, dachte ich an die vielen gemeinsamen Nächte im Auto. Mit Isa unterwegs nach Süden, ein paar verrückte Tramper hinten drin, die nicht wußten, wo sie waren oder wo sie hinwollten. Die Wolken zogen hoch über den Bergen dahin, die Welt draußen war seltsam fremd, verschneit, entfernt, die Musik war laut, wir rauchten viel und gehörten zusammen. Ich döste beim Fahren, sah komische Tiere auf der Straße sich bewegen, und Silvio neben mir sah sie auch, aber da waren nur die Straßen und fremdartige Wegweiser und Straßenschilder, und die Dunkelheit neben uns schien wie eine Mauer, aber es waren nur Felder und Himmel, und die Straße vor uns lief immer weiter geradeaus, verschwand in Senken, tauchte wieder auf, gerade, soweit das Licht reichte.

Zurück in Berlin, fuhren wir zu zweit sinnlos durch die Stadt, drehten die Musik auf, nahmen Leute einfach so mit, fuhren, wohin sie wollten, sahen uns um, manches war interessant, anderes langweilig, das war nicht wichtig. Oder wir bereiteten eine Aktion vor, saßen in einem parkenden Auto, achteten auf die Uhrzeit, auf die Zeiten des Wachschutzes, kämpften gegen die Müdigkeit an und starrten auf irgendeinen bedeutungslosen Punkt, eine Eingangstür, ein Fenster, ein Gitter.

Silvio machte Musik und verbrachte immer mehr Zeit am Baß, und seine Musik und die dazugehörige Gruppe wurden irgendwann wichtiger als wir. Vielleicht gab es die Gruppe gar nicht mehr, oder er machte woanders Musik, ich wußte es nicht. Er hatte noch keinen Brief in den Knast geschickt. Vielleicht machte er ja auch wieder militante Aktionen, nur mit anderen Leuten. Seit er vom hinteren Dorf Kreuzberg 36 ins vordere Dorf Kreuzberg 61 gezogen war, sah ich ihn kaum. Es sollte doch tatsächlich Leute geben, die gar nicht mehr aus dem 36er-Kiez von Kreuzberg herauskamen, für die eine Fahrt ins westlichere Kreuzberg schon eine richtige Reise war. Silvio war natürlich nicht so, ein Auto hatte er irgendwie immer gehabt.

Im Sommer hatten wir immer auf dem Heinrichplatz gesessen und etwas gegen Touristen ausgeheckt. Nichts richtig Bösartiges, schließlich waren die ja auch keine richtigen Bösewichte, aber sie waren doch lästig. Auf der Oranienstraße kamen sie dir in Herden entgegen, mit Stadtplänen bewaffnet, die Köpfe in den Nacken gelagert zwecks Betrachtung der Häuserfassaden, den Gehsteig komplett blockierend. Da gab es kein Ausweichen, durch solche Gruppen wurde sich gnadenlos hindurchgearbeitet, nebenbei sprachen wir laut darüber, wie gefährlich es hier für Touristen werden könnte. Mittags, wenn die letzten Reisebusse kamen, beschmissen wir sie gerne mit altem Obst oder irgendwelchem Müll oder manchmal auch Farbbeuteln. Wenn in Berlin der Tourismus nieste, bekam zumindest die »Morgenpost« Schnupfen, und das war doch durchaus erstrebenswert. Wir brauchten nicht mehr zu tun, als vor einer Kneipe in der Sonne zu sitzen und gemütlich Kaffee zu trinken, und wenn dann ein Bus kam, fand sich schon etwas zum Werfen.

Das war Silvio irgendwann zu kindisch geworden, und er meinte, entweder wir haben wirklich etwas gegen die Touris, und dann sollten wir mehr gegen sie machen, oder wir lassen den Blödsinn. Ich wollte nicht so konsequent sein, mal ganz davon abgesehen, ob er es selber wirklich so konsequent meinte. Ich sagte auch weiterhin armen verirrten Pärchen den richtigen Weg zur O-Bar und schickte alte schwäbische Ehepaare, die nach dem »Türkenviertel« fragten, möglichst weit weg, und ich konnte einen Bus der »Bären-Stadtrundfahrt« genausogut anzünden wie in Ruhe lassen, es gab wirklich Schlimmeres. Natürlich, es war ein großer Erfolg der Besetzerbewegung gewesen, das Tourismus- und Investitionsklima Westberlins negativ beeinflußt zu haben, aber das war eben ein angenehmer Nebeneffekt des Aufruhrs und nicht eine lockende Hauptaufgabe. Silvio sagte, richtig machen oder gar nicht machen, und das bedeutete gar nicht machen, was bei der Wahl oft das bessere ist. So war Silvio über die Jahre immer einer, der mal was mitmachte und mal nicht, ohne daß ich im einzelnen genau wußte, wo es für ihn langging. Und nach der letzten größeren Sache, die wir zusammen gemacht hatten, war es dann auseinandergegangen. Er hatte eigentlich mit niemandem richtig Streit gehabt oder ernsthafte Probleme, aber für ihn ging es einfach woanders weiter.

Und jetzt saß ich hier - im Knast - und dachte zum ersten Mal seit langem wieder an ihn, weil ich an unsere erste Aktion gedacht habe, und mich wunderte, warum er eigentlich noch nicht geschrieben hatte. Das war ziemlich wichtig, auch wenn ich es mir nicht gern eingestand: Wer wenig Briefe schrieb, wurde unwichtiger und entfernte sich nach und nach. Ein bißchen war es das Gefühl: »Jetzt zeigt es sich, wer deine wirklichen Freunde sind.« Obwohl mir klar war, wie blödsinnig das war, weil nun mal manche Leute einfach Schwierigkeiten mit dem Schreiben hatten und andere nicht schrieben, weil sie die Postüberwachung durch Staatsanwaltschaft und Staatsschutz fürchteten. Woran aber sollst du dich sonst orientieren, wenn du nur Briefe und ab und zu Besuch hinter der Scheibe hast? Du zählst die Briefe, auch wenn du dich vielleicht dafür schämst.

Es wurde alles sehr zäh. Es gab nichts Neues mehr, das Altbekannte zerrte mich nach unten, ich mußte mich anstrengen, um wenigstens gerade zu sitzen, auch innerlich betrachtet. Was zehn Tage so war, konnte auch hundert, tausend, zehntausend Tage so weitergehen. Wer fragte nach uns, nach dem Knast, nach Genotec, nach der Staatsanwaltschaft beim Kammergericht? Es gab nichts zu tun, und zu lesen gab es auch nicht viel. Alte Bücher waren aktueller als Tageszeitungen und lösten mehr Gedanken aus als Diskussionspapiere und Stellungnahmen zu politischen und sonstigen Ereignissen. Und was ich selbst schrieb, als Gefangener und darum mit besonders gewichtiger Stimme, kam mir genauso schlapp und unwichtig vor. Es war etwas um sich festzuhalten, und das bedeutete, daß die Füße nicht mehr sicher standen; davor hatte ich Angst. Die Sprache wollte sich mir entziehen, deshalb schrieb ich soviel wie möglich, um in Übung zu bleiben, und las es mir selbst laut vor. Etliches davon nahmen sie natürlich bei ihren immer wiederkehrenden Zellenrazzien mit, aber auch das geschah noch lustloser als zu Anfang. Wir waren schließlich nicht RAF oder Bewegung 2. Juni, sondern nur ein Häuflein Berliner »Chaoten«, darum wurden wir nur einem kleinen Teil des verfügbaren Terrors ausgesetzt, der für »Terroristen« stets bereitgehalten wurde. Immerhin blieb mir ein Trost: Was ich geschrieben hatte, würden die ganzen Staatsschützer nicht verstehen können; nicht, weil es so genial war, sondern weil sie keine Übersetzer hatten, die Äpfel in Birnen übertragen konnten.

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