irgendwann 1983


Die Räume, in denen ich Richtern begegnete, litten unter der zu niedrigen oder zu hohen Decke, unter der modernen oder historischen Holztäfelung, unter Doppel- oder Butzenglasscheiben, unterschiedlich hohen Sitzen, unter Wänden, Barrieren, Türen. Es war eigentlich nicht Aktenmief, der die Luft beherrschte, sondern eine genaue aktengerechte Definition des Luftgemisches im Gerichtssaal. Diese Akten waren die Herren des Verfahrens, nach ihrer Pfeife tanzte alles, in ihnen manifestierte sich die Justiz. Ohne Akte konnte die Justiz nicht existieren, sie war Fleisch und Blut des Rechts. Die Richter, Protokollführer und Staatsanwälte waren Knechte, aus ihren Mündern kamen die Worte trocken und normiert wie aus Schreibmaschinen und Leitz-Ordnern. Was sollte ich diesen Knechten sagen können?

»Sie sind Tomas Lecorte, geboren, von Beruf, wohnhaft ...«, dabei ein Blick in die Papiere oder auf mich, ob ich mich auch den Angaben der Akte anzupassen bereit zeigte. Nicht nur einmal gab es diese Prozedur, diesen heidnischen Ritus, der das Verfahren eröffnete und dessen tieferer Sinn darin bestand, alle anderen Wirklichkeiten als die der Akten auszuschließen, auszuradieren, zu löschen. Niemand konnte sie zwingen, niemand konnte den Gesetzbüchern im Weg stehen und ihnen mit eigenen Ideen, eigener Logik kommen. Die Richter hörten sich die politischen Erklärungen oder privaten Erläuterungen an und entschieden, ob diese von den Akten verstanden werden konnten. Konnten sie es nicht, verstanden auch die Richter nichts. Man konnte dann ebensogut mit den gestapelten Ordnern direkt sprechen.

Die Stimme blieb mir sowieso stecken, noch bevor sie meinen Mund erreichte, sie wurde dick und schwerfällig, schwach und fremd, denn hier war sie nichts. Sie verschwand zwischen den Drehtüren, Körperkontrollen, Treppen, Türen, Hallen, Gängen des Gerichtsgebäudes. Unter Holzbänken in langen Fluren, wo jedes Geräusch zu laut wurde, in der stickigen Luft, die die Anwesenheit der Anklageschrift und ihres Mundes, des Staatsanwaltes, verursachten. So war das bei den ersten Prozessen, und es wurde langsam besser, über Jahre, als ich mich an die Realität der Prozesse langsam gewöhnte, als Zuschauer oder als Angeklagter. Ladendiebstahl, Sachbeschädigung, Beleidigung, Landfriedensbruch, ich kannte den Verlauf, ich erwartete wenig und erhoffte doch immer noch viel. War ich angeklagt, wurde ich auch verurteilt, ab schuldig oder unschuldig, denn schuldig war ich weniger durch die Tat, vielmehr durch mein Alter, mein Auftreten, meine Feundschaften, meine Kleidung, meine Umgebung. Schuldig war ich, weil ich in Kreuzberg lebte, weil ich ein Hausbesetzer war, weil alle Jugendlichen kriminell sind, weil ich vorbestraft war, und vorbestraft war ich, weil ich vorbelastet war, und so weiter. Im einzelnen löste sich das auf, zerfaserte sich in Aktenlogik, in Argumente, Indizien, Beweisanträge, Vernehmungen, Aussagen oder Aussageverweigerungen. Daß Unschuldsvermutung und Beweiszwang der Anklage nicht mehr als ein freundliches Lächeln wert waren, brauchte mir niemand mehr zu erklären. Daß es keine Gleichheit vor dem Gesetz gab, war keine Erkenntnis, die ich irgendwelchen anderen von der Justiz Betroffenen voraushatte. Das wußten alle, selbst die, die nicht darüber nachdachten. Und was hatte ich auch zu erwarten von dieser Justiz, über die ich mein Urteil bereits gefällt hatte? Was interessierte mich Schuld oder Unschuld, wo keine Richter darüber befanden, sondern nur diese hilflosen Knechte der Aktenrealitäten? Keiner dieser Richter urteilte, sie beurteilten höchstens, und es ging für mich nur um eines: so heil wie möglich hier raus kommen, aus diesem Irrenhaus, das dich entmündigen wollte. Sowenig die Akten an meiner Wirklichkeit oder an Hintergründen oder auch nur am einfachen Geschehen interessiert waren, sowenig interessierte mich die »Wahrheitsfindung« dieser Gerichte.

Da standen Zeugen und logen, ich war hilflos, denn ihnen wurde geglaubt, und ich ärgerte mich, trotz aller Einsicht in die Zwangsläufigkeit der Dinge. Oder ich saß selbst da und log, um den Kopf aus der Schlinge zu ziehen, und ärgerte mich auch, denn eigentlich wollte ich ja denen da vorne sagen, was für armselige Gestalten sie doch waren. Sie verstanden so oder so nichts. Es war alles ein Theater, anstrengend und aussichtslos. Daß das Strafgericht keine moralische Instanz war, sondern ein Racheinstrument - wer war damit noch in Erstaunen zu versetzen?

Da ließen sie sich aus über mein Vorleben, reihten Bruchstücke aneinander, manchmal erinnerte ich mich selbst nicht einmal mehr daran, wann war ich wo, und dann kam die verfolgte Tat, und die Rede war von »schädlichen Neigungen« und »krimineller Energie« und »erheblichen Bedenken, ob er in Zukunft ...«, und es sollte »hier einmal ganz deutlich gezeigt werden, daß es nicht hingenommen werden kann, daß gewalttätige Straftäter und Chaoten ...«, ein Exempel war fällig, zur allgemeinen Abschreckung, und so weiter. Wir suchten die Berufungsgründe, die Revisionsansätze.

Anstatt ihnen zu sagen, daß ich ihnen kein Recht zubilligte, irgendein Urteil über mich oder andere zu fällen, daß sie für mich keine Kompetenz besaßen, knirschte ich mit den Zähnen, erzählte ihnen dies und das und versuchte, ihnen hier oder dort klarzumachen, worum es ging. Aber es ging ja nicht darum, ihnen meinen Heldenmut zu beweisen. Sie besaßen für mich keine Autorität, ich akzeptierte ihr Urteil nicht, also gab es vor ihnen auch nichts zu rechtfertigen und keine Moral zu verteidigen. Nur mein eigenes Gewissen gebot mir, auch hier den Mund gegen die Aktenrealität aufzumachen. Ich wollte ihnen nicht den Gefallen tun, sich ernstgenommen zu fühlen, indem ich sie als Adressaten meiner Übrzeugungen akzeptierte. Das war nicht der Ort dafür, denn es war das Land der Akten, ihr Land, in dem meine Sprache verhallte. Hier galt es zu entkommen.

Sie verpaßten mir Verwarnungen, Arbeitseinsätze, Geldstrafen, Bewährungsstrafen, rechneten die Untersuchungshaft großmütig an, boten Kompromisse und Deals an, vielleicht weil ihnen meine Augen gefielen oder weil sie möglichst wenig Arbeit mit mir haben wollten. Schließlich war ich wieder draußen, mußte nicht in den Knast, bis zum nächsten Prozeß jedenfalls. Bewährungsstrafen reihten sich aneinander, Haftverschonungsbeschlüsse ebenfalls, mit der Auflage, sich zweimal wöchentlich bei den Bullen zu melden, Monat um Monat. Diesen Zipfel meines Lebens hielten die Akten fest, da ließen sie nicht mehr los.

Mit der Zeit schwand dadurch meine Angst vor den erdrückenden Räumen des Gerichts, hinter deren Fenstern der Knast Moabit stets unübersehbar präsent war. Ich lernte ein wenig von der Sprache der Akten, kannte die Riten und Bräuche, war also nicht mehr verständnisloser, sondern verstehender Zuschauer, was immerhin ein Fortschritt war. Die Abschreckung verblaßte; zwar wirkten die Verurteilungen wie erwünscht, denn jeder kleine Regelverstoß mußte von mir jetzt genau überlegt werden: Sollte ich mich einmischen, wenn Skinheads in der U-Bahn Menschen angriffen.~ Immerhin riskierte ich damit eine Anzeige wegen Körperverletzung, und in meinen Akten standen diverse VorUrteile ... jedes Verfahren gegen mich würde mit einer Schuldvermutung beginnen. Aber die große Verinnerlichung der Bedrohung fand bei mir nicht statt. Die Justiz war ihres Mythos' entkleidet und erwies sich als kalkulierbarer Faktor. Wer brauchte schon Angst vor Akten zu haben? Eigentlich niemand. Eigentlich alle.

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