Juni 1982


Chaos breitete sich aus: Manche rannten hierhin und dorthin, andere standen herum und wußten nichts mit sich anzufangen. Die Bullen waren immer noch damit beschäftigt, den Stacheldraht auszurollen und jede Lücke abzudichten. Dahinter standen Wannen, Stoßstange an Stoßstange, quer über die Straßen. In Richtung City warteten die Wasserwerfer. Alles war zu. Jetzt kam die Stunde der langen Messer. Ich wußte nicht recht, was ich mit meiner ganzen Straßenkampf-Ausrüstung anfangen sollte, stand rum wie die anderen, wartete. Auf dem Weg zum Sammelplatz hatte es keine Vorkontrollen gegeben. Jetzt war mir klar, warum. Gutem Wetter und lachendem Herrn ist nicht zu trauen, dachte ich. Hier war die Falle zugeschnappt, und jetzt konnten sie uns in Grund und Boden stampfen. Das Wetter war gut, und die Herren lachten.

Langsam begriffen wir, was hier geschah, um Innenstadt und US-Präsidenten zu beschützen. Die Gemäßigten fingen an, Auswege zu suchen. Von Durchlässen war die Rede, wo wir einzeln und nach körperlicher Durchsuchung den Kessel verlassen durften. Während manche diese letzte Rettung suchten, machten wir uns fertig für den letzten verzweifelten Widerstand. Die Durchlässe kamen nicht in Frage. Hier hätten wir unsere Kapitulation erklärt und uns ans Messer geliefert oder davongeschlichen. Die einen standen in langen Schlangen an den Durchlaßstellen, die anderen machten sich bereit und bildeten auch eine lange Schlange, mit Helmen und Knüppeln ausgerüstet, um eine eigene Durchlaßstelle zu eröffnen.

Ich reihte mich nicht ein, denn ich hatte zuviel Angst, ich war wie gelähmt. Wie wollten sie es denn schaffen, wollten sie mit bloßen Händen die Wannen wegschieben? Der Zug setzte sich in Bewegung, es war ein schwacher Versuch, vor allem deshalb, weil es ein schmaler Zug war, so daß immer nur die wenigen ersten Leute in Berührung mit den umzingelnden Bullen kamen. Sie schafften es nicht durchzukommen. Aber dann explodierte der Kessel, an allen Seiten ging es los, auch von außen wurden die Bullen angegriffen - sie hatten nicht mit der uns eigenen Unpünktlichkeit gerechnet -, an einzelnen Stellen wurden die Straßen verbarrikadiert, an anderen preschten die Wannen mit sechzig Stundenkilometern durch die Menschenmengen, der Stacheldraht wurde weggeräumt, die Wasserwerfer zogen sich zurück, der Kessel löste sich auf, Schöneberg wurde zum Schlachtfeld, dessen Rauchwolken noch in entfernten Stadtbezirken zu sehen waren. Wir kamen nicht in die City, doch sei's drum, wir sorgten wenigstens hier dafür, daß Reagan nicht ungestört blieb.

Aber meine Angst blieb, eine Angst, die ich noch nie, wenn es losging, gespürt hatte, und die mich nicht verließ, auch als längst klar war, daß die Bullen die Lage nicht im Griff hatten und den Kessel nicht halten konnten. Brennende Autos fraßen sich in den Asphalt und stoppten die Amokfahrten der Wannen und Wasserwerfer, die Menschen gingen mit bloßen Händen, mit Stöcken und mit Eisenstangen auf die Wannen los, mit allem, was greifbar war, trommelten gegen Blech und Gitter, schlugen mit Kopfsteinen die Frontscheiben ein; es war der Ausbruch des monatelang aufgestauten Hasses, der wütende Aufstand gegen das Ende der Bewegung, das bereits unübersehbar seine Vorboten gesandt hatte.

Obwohl ich mit Helm, Gasmaske, Armschützern, Handschuhen und sogar einem Knüppel ausgerüstet war, fühlte ich mich schutzlos wie selten. Goran, Isa, alle meine Freunde und Freundinnen waren verschwunden, die Berliner verloren sich zwischen den vielen westdeutschen Genossen, und irgend etwas stimmte heute nicht. Die martialische Ausrüstung gab keine Sicherheit - sie war eigentlich auch nicht so wichtig. Wichtig war der Tag, das Gefühl, der Mut, der Haß, die Freude. Die Hitze, die dich überflutet, beim Vorwärtsstürmen, beim Flüchten, der kollektive Orgasmus, die Höhepunkte, der Spaß. Aber ich wußte, daß diesmal etwas schief lief.

Ich konnte den Mittelpunkt nicht verlassen, weil mir der Straßenkämpfer zu deutlich anzusehen war; in voller Montur konnte ich nicht einfach weggehen, ohne in der nächsten Seitenstraße abgegriffen zu werden. Ich war unsicher, rannte ziellos umher, hinter mir krachte und kreischte es metallisch, Wannenmotoren, quietschende Bremsen, neben mir hielten sie an, ich war genau in der Mitte der Fahrzeugkolonne, nur ein paar Leute in der Nähe, es gab keinen Fluchtweg. Die Holzknüppel tanzten auf mir rum, ich lag da und igelte mich ein, registrierte die Schläge, spürte keinen Schmerz, sondern nur die Treffer, verdammte Scheiße, jetzt isses vorbei, sie haben mich, irgendwo weit weg Geschrei und Steine, aber zu spät, sie hatten mich schon hoch und in die Wanne geschmissen, da lag ich. Jemand trat auf mir rum, Steine prasselten gegen das Fahrzeug, jemand schrie mich an: »Liegenbleiben, du Sau«, ich hatte mich nicht bewegt und hatte es auch nicht vor. Der Motor drehte auf, die Sirene zeterte, die Bullen in der Wanne wurden hin- und hergeworfen, das Funkgerät quäkte vor sich hin, wenigstens den Knüppel hatte ich noch wegwerfen können, hoffentlich hatten sie es nicht gesehen. Den Helm hatten sie mir runtergerissen und mir ein paar Schläge auf den Kopf gegeben, aber nur halbherzig, denn sie wollten möglichst schnell weg und hatten im Fahrzeug kaum Platz zum Ausholen.

Dann kamen wir zum Gefangenentransporter, am Rande des Schlachtfeldes geparkt, der Festnahmezettel wurde ausgefüllt, ein Polaroidfoto gemacht, und ab in eine Einzelzelle. Auf einem knappen Quadratmeter, mit einem engmaschig vergitterten Fenster nach innen, durch das ich im Sitzen nicht sehen konnte, weil die Sitzbank so tief angebracht war. Nach außen gab es nur ein paar Lüftungsschlitze ganz oben, durch die nichts zu sehen war. Das Warten begann, während sich die anderen Zellen des Transporters langsam füllten. Ich war aufgestanden, um etwas sehen zu können. Leute wurden an meinem kleinen Fenster vorbeigeführt, einige mit blutüberströmten Gesichtern, in Handschellen, manche mit zerrissener Kleidung, andere wie durch den Schlamm gezogen. Ein Betrunkener pöbelte die Bullen an, und sie drohten ihm mit weiteren Schlägen, von denen er wohl nicht mehr sonderlich viel gespürt hätte. Draußen, vor dem Auto, ordneten sie mühsam den Papierkram und wurden nicht schlau daraus, was welcher Beamte wann eingetragen hatte, wer der Festnehmende war, welche Einsatzbereitschaft wo unterwegs war. Einer nannte meinen Namen und beschwerte sich über die fehlende Personenbeschreibung. Langsam fühlte ich an mehreren Stellen die Schläge, am Oberschenkel und am Unterarm, wo die Knüppel am häufigsten getroffen hatten. Das Funkgerät vorn im Fahrzeug plauderte unaufhörlich, piepte und knackte, es kamen und gingen Bullen, Wannen lieferten ihre Fracht ab und stürzten sich wieder ins Getümmel.

Dann ging es weiter, die Außentür wurde zugeschlagen, der Transporter fuhr an und rumpelte in Richtung Gefangenensammelstelle. Nichts drang mehr nach innen außer dem Funk und dumpfen Geräuschen von draußen, die nicht identifizierbar waren. Und die überdies sehr unbedeutend waren, denn jetzt war anderes wichtig. Hatten die mich einfach so abgegriffen, oder hatten sie mich irgendwo gesehen? Was hatte ich zu Hause, würden sie eine Durchsuchung machen? Was war auf der Wache, wohin fuhren wir? Wahrscheinlich in die Gothaer Straße, weil wir ja schon in Schöneberg waren, die hatten einen üblen Ruf, da warteten Schlägertypen auf uns, sehr unangenehm. Wer hatte die Festnahme gesehen? Na, egal, was sollten die schon tun. In ein paar Stunden würde ich ja wohl auch wieder rauskommen, sie hatten mich ja nur einfach so von der Straße gegriffen. Obwohl es keine Sicherheit gab; eine Anzeige wegen Landfriedensbruch war schnell gemacht, bei meiner Ausstaffierung. Es gab sicher genug Bullen, die sofort bezeugen würden, mich überall beim Steineschmeißen erkannt zu haben. Anzeige wegen Widerstand und Körperverletzung gab es ja sowieso, bei jeder Festnahme, egal, wie du dich verhalten hast. Vielleicht nicht bei jeder, aber doch bei den meisten, und auf jeden Fall dann, wenn die Bullen dich verprügelt hatten - vorbeugend, falls du auf die Idee kommen solltest, Anzeige gegen sie zu erstatten. Bei mir würden sie wohl kaum eine Ausnahme machen.

Dann waren wir im Hof der Gothaer, ein paar Sekunden Himmel, zwischen Hauswänden; an Bullen vorbei, die Schläge und Stöße austeilten, weiter durch Gitter und Türen, wurden wir in die GeSa getrieben. Kommando: »Ausziehen«, drei Bullen standen daneben, zuerst alle Taschen ausleeren, dann ausziehen, sie standen bereit und lauerten auf ein falsches Wort, eine verdächtige Bewegung, aber sie ließen mich in Ruhe. Dann kassierten sie meine Schnürsenkel und den Gürtel ein, gaben mir die durchsuchten Klamotten zurück, und ab ging's in die Zelle, eine Einzelzelle. Das erste Mal. Gut, festgenommen worden war ich schon vorher mal, eine Weile in der Wanne, dann aber freigelassen, alles keine lange Geschichte. Diesmal war es anders. Das war eine Zelle. Knast. Gitter. Eine unerreichbare Lampe hinter schmutzigem Plastik, unbewegtes Kunstlicht, verdreckte, bekritzelte Wände, Linoleum, eine festgeschraubte hölzerne Bank, eine Klingel neben der Tür. Hier war das Ende aller Träume.

Die Zeit verging nicht, sie kroch in alle Ritzen, füllte den Raum aus, die Luft wurde dick und drückend. Der Lärm von draußen schwoll an und ab, Schlüssel klirrten, Türen schlugen, Schreie hallten, Kommandos, Flüche, Schmerzen. »Wat is denn los, weswejen binick überhaupt hier?« - »Wohnen Sie da wirklich? Wie kommen wir da rein? Wozu gehören diese Schlüssel? Wer ist in der Wohnung?« - »Ick hab en Recht, zu telefonieren. Ick will meen Anwalt sprechen. Warum binick hier? Da lachick doch! Ick hab nischt jetan.« - »Bullenschweeeiiine!« - »Ich weiß da nicht Bescheid. Ich bin nicht für Sie zuständig. Ja, können Sie haben. Warten Sie 'n Moment. Was wollense denn jetzt nun wieder?« - »Ich bin aus Salzgitter. Ich kenne da ... war da auch mal Schließer, rrrp, mein Vater ist nämlich Richter, ja, Richter.« - »Jetzt seinse mal ruhig. Kommse mal mit. Wat wollnse überhaupt? Jaja, wartense erst mal jetzt. Alles klar?« - »In Salzgitter, jawoll!« - »Jetzt reichts aber langsam, machense mal keen Alarm hier, Ruhe jetzt, sonst passiert was.« - »Das könnt ihr mit mir nich machn so was ...« - »Ick will meen Anwalt!« Und so weiter. Und so weiter.

Alle Werte waren hier umgestoßen. Ich fürchtete jede falsche Bewegung, fühlte mich immer noch nackt vor den Bullen stehend und hatte Angst, nicht ihren Normen entsprechend zu handeln. Hier gab es andere Gesetze, gemacht von denen, die meine Feinde waren. Von denen hatte ich nichts zu erwarten. Es galt nur noch, so heil wie möglich hier rauszukommen. Aber wann, wann? Die Zeit weigerte sich zu verstreichen.

Hatte es sich gelohnt? Lohnte es sich, im Knast zu sein, für nichts oder für etwas Bestimmtes? Unsinn, redete ich mir zu, das hier ist nicht richtig Knast, ist nur Bullenzelle, ich komme hier wieder raus, morgen früh wahrscheinlich, wenn der Krawall vorbei ist, ich hab mich sowieso zurückgehalten, wird schon nichts passieren, sie werden mir nichts anhängen können. Wir leben schließlich in einem Rechtsstaat, nicht wahr, die müssen mir erst mal was beweisen, so einfach ist das alles nicht. Das Wort »Rechtsstaat« ließ ich mir auf der Zunge zergehen und mischte es mit einem spöttischen Lächeln. »Der freieste Staat, den es je auf deutschem Boden gab«, naja, wer wußte schon, was früher mal auf diesem Boden war, aber vielleicht war es ja sogar tatsächlich der freieste Staat auf diesem Boden, was konnte ich mir dafür kaufen? Was besagte das schon, außer, daß die anderen Staaten auf deutschem Boden noch viel schlimmer gewesen waren, ein doller Trost, fürwahr. Es war schwierig, dieses unterschwellige Hoffen auf die Gerechtigkeit des Staates aufzugeben. Genauso, wie es oft schwierig war, gegen die Existenz von Bullen als Ordnungskraft zu argumentieren. »Wenn euch das Fahrrad geklaut wird, kommt ihr ja doch zu uns«, sagten die Bullen, wenn sie psychologisch geschult waren, das war natürlich lächerlich, weil ich niemals wegen eines Diebstahls zu den Bullen gehen würde, höchstens, um mir das Versicherungsgeld zu sichern, das es nur bei Nachweis der Anzeige gab. Hier mit »nein« zu antworten war leicht, schwieriger wurde es bei anderen Dingen: Vergewaltigung, Mord, Totschlag - oder Neonazis, rechte Skinheads, Fußball-Hooligans, das ganze Mobilisierungspotential der modernen Faschisten. Es hatte auch Situationen gegeben, in denen faschistische Skins in der Überzahl gewesen waren und die Bullen erstaunlicherweise einmal uns geschützt hatten. Das war die absolute Ausnahme, im allgemeinen hatten wir beide Gruppen gegen uns, aber wenn es doch einmal vorkam, war es ein sehr ungemütliches Gefühl.

Hier und jetzt waren die Fronten klar, und solche Fragen stellten sich mir zum Glück nicht. Wichtig war, sich hier irgendwie herauszuwinden, unter Ausnutzung aller Errungenschaften der bürgerlichen Demokratie. Immerhin, so konnte ich mich trösten, waren diese Errungenschaften nicht vom Himmel gefallen und auch nicht freiwillig von den Herrschenden dem Volke geschenkt, sondern in vielen Generationen opferreich erkämpft worden, von den Gegnern der Herrschenden, von unseren Vorbildern der Vergangenheit. Nicht umsonst hießen sie »Errungenschaften«, denn sie waren mühsam errungen worden, und nicht wenige von ihnen mußten immer noch weiter verteidigt werden, oder vielleicht waren auch viele von ihnen im Laufe der Zeit wieder verlorengegangen und mußten neu erobert werden. Also mußte ich mir keine Vorwürfe machen, inkonsequent zu sein. Hauptsache raus hier.

Irgendwann später, das Schreien war weniger geworden, kam ein Schließer mit einem Zivilen. Jetzt folgte das Verhör, kurz und bündig, Aufnahme der Personalien, ich wußte, daß ich nur angeben mußte, was sowieso im Ausweis stand. Der Staatsschutzbulle erklärte mir, gegen mich werde wegen schweren Landfriedensbruchs ermittelt und wegen Körperverletzung, Widerstand, Sachbeschädigung und so weiter. Ich sah ihn an, sah mich um, der Raum war kahl und uninteressant; der Staatsschützer klimperte mühsam auf einer alten Büroschreibmaschine herum, mit der er nicht zurechtkam, ich machte ihm die Arbeit leichter, indem ich jede Aussage verweigerte und einen Anw,dt verlangte. Er gab sich korrekt, hm, nein, mit dem Anwalt war das jetzt gerade etwas schwierig, alles ging drunter und drüber, aber er werde sich drum kümmern, ich solle ihm den Namen und die Nummer geben. Und dann war ich wieder auf der Zelle und wartete, auf die erkennungsdienstliche Behandlung, es war meine erste; zuerst hatte ich überlegt, Widerstand zu leisten, doch mir schienen die Krafteverhältnisse allzu ungünstig. Ich wollte nicht jetzt noch die Fresse voll kriegen und dazu gequetschte Finger und ausgekugelte Arme, um dann am Ende doch katalogisiert zu werden, also spielte ich mit. Ich hätte nicht gedacht, wieviel Ausdauer einer entwickeln konnte, wenn es galt, Fingerabdrücke auf Pappkarten zu sammeln. Es nahm gar kein Ende, und danach kamen die Formblätter zur Personenbeschreibung, wobei der ED-Bulle sich Mühe gab, daß ich nicht sehen konnte, was er aufschrieb, Fotos, Gewichts- und Größenbestimmung. Und wieder in die Zelle, und die hallenden Geräusche, das Warten, die Zeit, die irgendwo anders unterwegs war. Alles war völlig gleich, eine Minute war wie die andere, aneinandergereiht ohne Ende, durchbrochen von fremden Geräuschen - und dann von meinem Anwalt, der erste Grund zur Freude seit meiner Festnahme. Er war im Streß, es gab zu viele Festnahmen und zu wenige Anwälte, alles war chaotisch, die Bullen wollten keine Anwälte zu den Gefangenen lassen, machten Schwierigkeiten, wo es nur ging. Er wußte eigentlich nicht mehr als ich, es ging um Steineschmeißen, sagte er, und ich würde morgen vor den Haftrichter kommen, und plötzlich lag etwas in meinem Bauch und zerrte mich runter, alles zog sich zusammen, die Wände bogen sich über mir, es wurde sehr heiß, es kam von unten und schwappte über mich. Nichts stand fest, gut, vielleicht gab es ja keinen Haftbefehl, vielleicht auch Haftverschonung, ich war nicht vorbestraft, ja, es mußte so kommen, es durfte nicht anders sein, mein Bauch war anderer Meinung, er meinte, ich solle mich lieber zusammenkauern, einrollen, und Teil der Mauern werden. Vier Monate später stand ich mit einem Karton voll Klamotten und Papieren auf der Straße, Alt-Moabit 12a. Hinter mir schloß sich die Tür, es war regnerisch und kühl. Autolärm sprang mich an, alles war merkwürdig bunt und grell und laut und kam von allen Seiten. Die Menschen schienen mir fremdartig und hatten es alle eilig, als gebe es sonstwas Wichtiges zu tun. Was konnte es hier schon Wichtiges geben? Ich war wieder drinnen, das war das Ereignis, drinnen in der Welt, aus der ich wochenlang herausgerissen gewesen war. Jetzt stand ich hier, mit dem dämlichen Karton, und schräg gegenüber wartete eine Telefonzelle. Aber sie wartete umsonst, denn neben ihr war das Auto - und Isabel, Goran und Silvio. Goran schrie irgend etwas und stieß die anderen an und hüpfte auf der Motorhaube herum, bis ich rübergekommen war und den Karton abgestellt hatte. Ich wollte sie nicht mehr loslassen, alle drei, nur noch festhalten, zu einem Körper werden, nie mehr loslassen. Küssen und umarmen und nichts anderes, meinetwegen stundenlang, aber dann mußte ich mich ans Auto lehnen, mich erst mal hinsetzen, denn es stieg in mir zu viel auf, das sich lange angestaut hatte. Das mußte langsam raus, nach und nach, und ich durfte nicht die Kontrolle verlieren, sonst explodierte ich. Isa erzählte, daß sie ein großes Essen vorbereitet hatten, und Silvio strahlte die ganze Zeit, er wußte nichts zu sagen, Isa und Goran erzählten und erzählten, das meiste vergaß ich gleich wieder. Ich war damit beschäftigt zu hören, zu sehen, den Weg in unsere Wirklichkeit wieder zu finden. War alles jetzt anders oder alles gleich geblieben, oder wie? Ich wollte sie nur noch ansehen, die ganze Zeit, Isa etwas mehr, aber eigentlich alle drei, ihre Gesichter in mein Gedächtnis einbrennen wie Brandzeichen. Oft genug hatte ich dagelegen und versucht, mir Gesichter vorzustellen, von Genossen und Freunden und Geliebten, Männern wie Frauen, aber sie waren immer unscharf geblieben, und je mehr ich mich anstrengte, desto verschwommener waren sie geworden. Ich hatte schon Angst, ohne Fotos die Menschen nicht mehr erkennen zu können. Die Besuche alle zwei Wochen änderten daran nichts. Diese Besuche waren eine zweischneidige Sache, denn sie störten mein Leben in dem fremden Land, zwangen mich zu anderen Gefühlen und Worten, waren eine einzige Anstrengung. Oft war ich froh, wenn sie vorbei waren, und ich überlegte mir, ob ich nicht ganz drauf verzichten sollte. Sie schienen es nur noch schwerer zu machen, die Realität des Knastes zu akzeptieren, der ich nun mal ausgesetzt war. Aber das waren reine Gedankenspiele, denn die Wärme, die Berührungen, die Stimmen, die Gesichter ließen sich nicht aufwiegen. Im Auto plauderte ich, erzählte vom Leben im Knast, fragte, aber das lief alles nebenher, während ich nach draußen sah und alles zu registrieren versuchte. Wieso hatte sich so wenig verändert? Die Häuser sahen gleich aus, die Autos und Straßen auch, die Plakate hatten sich kaum verändert, in den Schaufenstern dieselben Waren, die gleichen Straßenlaternen. Alles hätte ganz anders sein müssen, denn ich war doch ewige Zeiten weg gewesen. Vier Monate, das waren Jahre, in denen die restliche, wirkliche Welt eine völlig andere hätte werden müssen. Warum liefen die Menschen nicht auf dem Kopf, warum war der Himmel nicht grün, warum waren nicht alle Banken und Kaufhäuser in Schutt und Asche gelegt? Vier Monate waren viele Jahre, aber nichts hatte sich geändert.

»Und, wie fühlst du dich?« fragte Isa nicht zum ersten Mal. Ihre Hand fühlte sich angenehm warm an.

»Naja, komisch «, sagte ich, »ich muß erst mal ankommen. Mir kommt das alles hier ziemlich grell vor, ein ziemliches Chaos, das muß ich für mich erst mal ordnen. Aber es scheint ja so mehr oder weniger alles gleich geblieben zu sein.«

»Ja, mehr oder weniger. Und du?«

»Weiß nicht. Na, in vier Moanten ändert sich ja wohl nicht so viel, schätze ich. Werd ich in der nächsten Zeit schon noch merken. Aber ich glaube, ich hab's relativ gut überstanden. Die Angst ist jedenfalls erst mal weg, so vor Knast und all dem. Wißt ihr, ich glaube fast, so 'ne Weile Knast kann auch ganz lehrreich sein, mal so ein bißchen zum anschnuppern.« »Na, ich kann mir bessere Beschäftigungen vorstellen«, sagte Silvio.

»Meinste das ernst?« fragte Goran. »Also, Knast zum anschnuppern, ich weiß ja nicht.«

»Doch, mein ich ernst«, sagte ich, »nur kurz, so ein, zwei Monate, das reicht doch schon aus. Da merkst du mal ansatzweise, was das wirklich heißt, im Knast zu sitzen, und dann weißt du auch besser, worauf du dich einläßt, wenn du Steine schmeißt und so was. Dann ist der Knast nicht mehr dieses fürchterliche Monstrum, vor dem du nur Angst hast, weißt du, du kannst dann damit umgehen, mit der Bedrohung. Du bleibst nicht mehr an dem Punkt stehen, daß Knast eben schrecklich ist und zum System der Repression gehört, sondern du kannst ihn greifen, einen Umgang damit entwickeln und anderen Leuten davon etwas vermitteln.«

»Ob das so ermutigend ist?« zweifelte Goran. »Also ich würd mich nicht gern mal eben zwei Monate in den Knast setzen.«

»Ich bin insgesamt doch ganz gut klargekommen«, sagte ich, »warum sollten das nicht auch andere schaffen?«

»Wart erst mal ab«, sagte Silvio, »in ein paar Wochen kannst du erst sagen, wie gut du klargekommen bist.«

Ich dachte an die Tage, auf dem Bett liegend oder sitzend, schreibend, lesend, Radio hörend, manchmal ein Gefühl wie Urlaub, manchmal ein Gefühl wie im Grab, die Tür ohne Klinke, ein Teil der Wand, sonst nichts. Das Denken auf einem Fleck, sich um sich selbst drehend, das sinnlose Gerede beim Hofgang über Prozesse und Strafen und Heldentaten, das mühsame Abarbeiten der Zeit, das Gefühl, nach und nach jede Form der Verantwortung zu verlieren, gewaltsam auf Kindergarten-Niveau zurückgestoßen zu werden, weil alles von anderen erledigt wurde. Das Gefühl, selbst ein Teil der Zelle zu sein, Inventar, das verwaltet wurde, ohne Arme und Beine, folgenloses Denken, dessen Bahnen genauso ausgetreten waren wie der Weg auf dem Hof. Es war das Gefühl vollkommener Passivität. Das Gefühl, nichts wirklich selbst zu machen, sondern gemacht zu werden. Immer wieder mußte ich dagegen ankämpfen. Da waren meine Arme, meine Hände, ich hatte sie noch, ich konnte noch etwas Selbständiges tun. Das würde ich behalten, sie würden es mir nicht nehmen können, niemals. Ich war mir sicher. Aber vier Monate waren doch nicht viele Jahre.

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