Mai 1989


Praktischerweise waren die Besuche im Knast so organisiert, daß wir auch immer etwas von den Besuchen bei den anderen Gefangenen erfahren konnten. Goran war erst vor drei Tagen bei Carmen in Plötzensee gewesen und erzählte, daß es Carmen nicht so gutging, sie war krank und bekam keine angemessene Behandlung, was ja auch nicht anders zu erwarten war. Dafür war Judith ganz frisch und munter und ließ sich auch durch die Trennscheibe nicht allzusehr stören; das Gefühl, so dicht bei Carmen zu sein und ihr nicht helfen zu können, war jedoch gerade für sie nicht leicht zu ertragen. Die beiden schienen irgendeine Art von Kontakt zueinander zu haben, soweit ich das mitbekommen hatte. Die großen Ohren des Staatsschutzes standen natürlich überall im Raum, und solange du die Trennscheibe dazwischen hattest, hätten sie auch im Nebenraum stehen können und trotzdem noch alles verstanden, da wir ja fast schreien mußten, um uns zu verständigen. Carmen war die letzte von uns, die sie unterkriegen würden, da war ich sicher. Von Carmen hatte ich einiges gelernt, obwohl sie kaum älter war als ich. Früher war ihr Vorsprung größer gewesen. Da war sie noch mehr eine Macherin gewesen, das hatte nachgelassen.

Klar, wir waren doch alle gleich, es gab kein Oben und kein Unten und keine Befehle, nur daß eben manche Leute eine festere Stimme hatten als andere. Aber wer wollte uns das vorwerfen? Irgendwelche Bürgerlichen, die nach Haaren in der Suppe forschten? Wenn alle Menschen gleich waren, paßte es ihnen nicht, und wenn es dann bei uns doch wieder Unterschiede gab, hackten sie eben darauf herum. Wenn sie andere Menschen oder Gruppen analysierten, versteckten sie doch dahinter nur ihre eigene Bedürftigkeit. Wer analysiert die Analysierenden? Vielleicht die Eheberatung. Da stellten sie sich hin und meinten, was wollt ihr eigentlich, die Menschen sind doch glücklich und zufrieden, und das machte mich immer ein wenig fassungslos, denn ich fragte mich, wen sie mit »die Menschen« meinten und was mit »glücklich und zufrieden«? Konnten oder wollten sie nicht sehen, daß dieses Glück Fassade war, Pfeifen im Walde, Selbstbetrug, Ignoranz? Daß es teuer erkauft war mit dem Unglück anderer und mit eigener Erblindung? Hielten sie Stanislaw Lems »futurologischen Kongreß«, in dessen Verlauf sich alles Selbstverständliche als Täuschung erwies, für ein nettes Geschichtchen anstatt für eine Parabel auf das tatsächliche Leben der Lüge und Blindheit?

Natürlich, wenn ich ihnen so kam, würden sie mahnende Zeigefinger erheben und mich belehren, Junge, auch deine Zufriedenheit ist das Unglück anderer, denn du predigst doch Gewalt. Und ich würde ihnen sagen, daß ich das Unglück gewisser Leute durchaus befürwortete, und daß ich es überhaupt als einen entscheidenden ersten Schritt betrachtete, sich diese ganzen Verhältnisse einmal klar vor Augen zu führen, nicht nur einmal, um dann bewußt zu handeln, statt alles laufen zu lassen und bestenfalls wortreich zu bedauern; und daß das Ziel natürlich niemals alle, aber doch einige Mittel heilige und daß ich bei ihren Zeigefingern ein Ziel an sich vermißte und das schlimm fände für so aufgeklärte Menschen, mit eingebautem Drehzahlbegrenzer, damit die Aufklärung nicht überhand nimmt. Und das Schlimmste, daß bei uns viele nicht anders waren als sie, auf ihre Art und Weise, würde ich ihnen erst später sagen, denn sie wollten ja nur so was hören und dann ganz gewaltfrei dreinschlagen, mit ihren eigenen geheiligten Mitteln; als selbsternannte Hüter der Objektivität gestanden sie keiner Instanz zu, sie zur Rechenschaft zu ziehen und ihnen zu sagen, daß auch sie gegen Spiegel redeten, wie alle.

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